Religion und Gesellschaft Einleitende Bemerkungen
zu einem im Sommersemester 2011 stattfindenden interdisziplinären Seminar
am Institut für Philosophie der
Universität Innsbruck mit Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen
in Innsbruck, Istanbul, Mardin und Ankara und unter Beteiligung von Experten
aus Bosnien-Herzegowina, Marokko, Pakistan und der Türkei
Innsbruck, Februar 2011 |
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Im Zuge der seit Beginn des
21. Jahrhunderts immer deutlicher werdenden Krise in den Beziehungen
zwischen der westlichen und der islamischen Welt ist Religion wieder zu
einem zentralen Thema des politischen Diskurses –
innerstaatlich wie international
– geworden. Es geht dabei vor allem um Auffassungsunterschiede
über die gesellschaftliche Rolle des Glaubens. Die immer schärfer
werdenden Kontroversen drehen sich insbesondere um die Frage der
Vereinbarkeit einer im Glauben gegründeten Loyalität mit einer als
säkular proklamierten Wertordnung, von der man gleichwohl im Westen
behauptet, daß sie christlich inspiriert sei. In diesem
Zusammenhang wird vor allem die islamische Weltauffassung thematisiert,
welche –
im Unterschied zu anderen Religionen, einschließlich des christlichen
Monotheismus – mit der modernen, in den Menschenrechten als
ihrem transkulturellen Fundament grundgelegten Demokratie nicht
vereinbar sei.
In Anbetracht der polemischen Natur des vorherrschenden Diskurses scheint
eine Analyse auf nichtkonfessioneller –
also philosophischer – Basis („sine ira et studio“) angebracht. Dabei wird
der Frage nachzugehen sein, inwiefern der Absolutheitsanspruch insbesondere
der Offenbarungsreligionen nicht von vornherein einen Primat der religiösen
Weltauffassung über alle Bereiche des Lebens – einschließlich der
Gesellschaft in ihrer jeweiligen politischen Konkretisierung – bedingt. Das
Bestehen auf der allein seligmachenden Natur des jeweiligen (eigenen)
Glaubens („extra ecclesiam nulla salus“) ist geschichtlich wie aktuell, in
unterschiedlichen Variationen und Interpretationen, typisch für alle
religiösen Heilsbotschaften. Die Wirkungsgeschichte der Bulle von Bonifaz
VIII. (1302), in der nicht nur ein exklusiver Heils-, sondern ein
politischer Führungsanspruch statuiert wird, macht überdies deutlich, daß
die Trennung von Kirche und Staat nichts dem Christentum Eigentümliches ist,
sondern dessen Amtsträgern erst mühsam abgerungen werden mußte. Auch in der
Gegenwart werden in manchen westlichen Ländern bestimmten christlichen
Kirchen Privilegien eingeräumt, welche mit den Grundsätzen der Säkularität
nicht vereinbar sind.
Die
zentrale Frage, mit der die sich überwiegend als säkular verstehenden
Gesellschaften des Westens konfrontiert sehen, bezieht sich auf die
politischen Organisationsformen und rechtlichen Normen, mit
denen sichergestellt werden soll, daß Menschen mit divergierenden Welt- und
Wertvorstellungen friedlich in einem Gemeinwesen koexistieren, was
wiederum voraussetzt, daß niemand aufgrund seines Glaubens diskriminiert wird.
Im Zeitalter der Globalisierung und der mit ihr einhergehenden
Migrationsbewegungen ist Multikulturalität, welche das
Nebeneinanderbestehen einer Vielzahl von Religionen nicht nur global,
sondern in ein und demselben Gemeinwesen einschließt, zu einer nur um den
Preis „religiöser Säuberung“ teilweise rückgängig zu machenden Tatsache
geworden. (Die globale Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Weltentwürfe kann
durch keine wie immer geartete politische Steuerungsmaßnahme rückgängig
gemacht werden.) Die Propagierung einer „Leitkultur“, in welche sich
Menschen ungeachtet ihrer religiösen Identität zu integrieren hätten,
erscheint unter diesen Voraussetzungen als –
durchaus problematische – postmoderne Version der Maxime „cuius regio, eius
religio“, des Konfliktlösungsprinzips des Augsburger Reichs- und
Religionsfriedens (1555).
Wenn, wie dies gegenwärtig in der Politik vieler westlicher Länder
geschieht, das christliche Erbe und die darin angeblich fundierten
„westlichen Werte“ als Leitlinie der res publica proklamiert werden, so
müssen –
schon aus Gründen der Fairness gegenüber Menschen mit anderen kulturellen
(religiösen) Identitäten – die Karten auf den Tisch gelegt werden: es muß
begrifflich präzise gezeigt werden, welche Normen und Verhaltensregeln aus
dieser Tradition abgeleitet werden können, die nicht auch in anderen
Traditionen enthalten sind. Insbesondere wäre zu fragen,
inwiefern die klassische griechische Philosophie und Wissenschaft, welche
von der islamischen Zivilisation des Mittelalters rezipiert und an das
„christliche Abendland“ tradiert wurde, einen gemeinsamen hermeneutischen
Nenner darstellen könnte, der die derzeitige politisch-propagandistische
Polarisierung (Abendland – Morgenland) überwinden hilft.
Angesichts einer Erstarkung des religiösen Bewußtseins, verbunden mit
gesellschaftlichem, oftmals auch missionarischem Sendungsbewußtsein, nicht
nur in der islamischen, sondern auch in der christlichen Welt (insbesondere
unter den evangelikalen Strömungen und in der Pfingstbewegung in den USA und
vielen außereuropäischen Ländern), ist die Frage nach strukturellen
Gemeinsamkeiten in religionssoziologischer Hinsicht neu zu stellen.
Die Probleme des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft sollen –
im Zusammenhang mit den Fragen der multikulturellen Gesellschaft –
im Rahmen einer Exkursion in ein islamisches Land exemplarisch weiter
untersucht und zum Abschluß des Seminares in einer Diskussion mit in
Österreich im erzieherisch-kulturellen Bereich tätigen Moslems erörtert
werden. Die Zukunft nicht nur Europas wird davon bestimmt sein, ob es den
Religionsgemeinschaften und ihren politischen Exponenten gelingt, sich unter
den Bedingungen der Globalisierung (welche Regionallösungen nach Art des
Ausgburger Religionsfriedens von vornherein als illusorisch
erscheinen läßt) auf die Grundsätze eines modernen
Religionsfriedens zu einigen. Dies schließt zuvörderst eine
„strategische Verständigung“ über den gesellschaftlichen Stellenwert der
Religion ein. *** |