Das Verhältnis zwischen Islam und Christentum in Europa: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
„Japan, der Islam und der Westen“ (Kuala Lumpur, Malaysia, 2. – 3. September 1996)
I n h a l t I. Die Geschichte der islamisch-christlichen Beziehungen in Europa: Kulturelle Interaktion versus politisch-ideologische Konfrontation II. Metaphysische Konzeptionen im Islam und im Christentum und ihr Einfluss auf die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den beiden Gemeinschaften in Europa III. Derzeitiger Zustand und zukünftige Perspektiven der islamisch-christlichen Beziehungen in Europa
© International Progress Organization, Wien, 1996. Deutsche Version: 2003. Alle Rechte vorbehalten.
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Verfasser autorisierte Übersetzung aus dem englischen Original. |
Anhand der universalen Sichtweise der Geschichte der Kulturen zeigt sich, was die gegenseitigen Einflüsse der islamischen und der christlichen Welt angeht, ein bemerkenswerter Unterschied. Der Einfluss des europäischen Denkens auf die islamische Welt reicht lediglich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurück, während die islamische Zivilisation ihre tiefgreifende Wirkung auf die europäisch-christliche Kultur – auf deren langem Weg zur Entwicklung von Wissenschaft und Technologie – bereits ein Jahrtausend zuvor und über einige Jahrhunderte hindurch ausübte. Mit anderen Worten: die europäische Kultur hatte mehr als tausend Jahre keinen besonderen Einfluss auf die islamische Welt, vielmehr profitierte sie durch die frühe islamische „Aufklärung“ in allen Bereichen von Kultur und Wissenschaft. Es ist eine historische Tatsache, dass die Herausformung des europäischen geistigen Lebens im Mittelalter ganz wesentlich das Resultat der blühenden islamischen Zivilisation in Spanien war. Über fünf Jahrhunderte hindurch – genauer gesagt vom 8. bis zum 13. Jahrhundert – war die Geschichte der Weltzivilisation die Geschichte des Islam. Verglichen mit der damaligen christlichen Zivilisation Europas war die islamische Zivilisation viel weiter entwickelt und aufgeklärter. In einer entscheidenden Zeitperiode von ungefähr zweihundert Jahren befähigte das Zusammentreffen mit der islamischen Zivilisation Europa dazu, seine Fähigkeiten in allen wissenschaftlichen Bereichen, speziell in Philosophie, Medizin, Astronomie, Chemie und Mathematik zu entwickeln. Eine große Errungenschaft der muslimischen Gelehrten im Mittelalter war es, die Schätze der antiken griechischen Philosophie und Wissenschaft für die Nachwelt zu bewahren. Die christlichen Gelehrten wurden mit den Grundbegriffen der aristotelischen Metaphysik über die arabischen Philosophen in Spanien – mittels deren Übersetzungen und Kommentaren – vertraut. Der 1126 in Cordoba geborene arabische Philosoph Ibn Rushd (Averroës) übte den größten Einfluss durch seinen Aristoteles-Kommentar aus. Die arabischen Hochschulen in Cordoba, Sevilla, Granada, Valencia und Toledo wurden von vielen christlichen Gelehrten besucht. Große christliche Denker dieser Zeit, wie Albertus Magnus, Roger Bacon, Thomas von Aquin, Wilhelm von Ockham, Gerbert von Aurillac, der spätere Papst Silvester II., um nur einige zu nennen, entwickelten ihre intellektuellen Fertigkeiten und ihre Argumentationskunst in diesen Bildungszentren. Die „große europäische Bibliothek“ in Toledo – wo 1130 eine Übersetzungsschule gegründet wurde – zog Studenten und Wissenschafter aus ganz Europa an. Die arabisch-islamische Medizin hatte einen enormen Einfluss auf die Entwicklung der Heilkunst in Europa. Die ersten Professoren für Medizin in den neu errichteten europäischen Universitäten im 12. Jahrhundert waren allesamt frühere Studenten arabischer Gelehrter. Das grundlegende Werk des bekanntesten medizinischen Gelehrten, Ibn Sîna (Avicenna), Al-Qanûn (canon medicinae), wurde in allen wichtigen europäischen medizinischen Fakultäten über sechs Jahrhunderte hindurch gelehrt. Noch 1587 errichtete König Heinrich III. von Frankreich einen Lehrstuhl für die arabische Sprache am Collège Royal, um die medizinische Forschung in Frankreich voranzubringen. Ähnliche Einflüsse auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Methoden können auch im Bereich der Mathematik, der Astronomie, der Chemie, der Architektur, der Musik und der industriellen Fertigkeiten zurückverfolgt werden. Der arabische Astronom Al-Battâni (Albatenius, 858 – 929) widerlegte das ptolemäische Dogma des Geozentrismus, lange bevor Kopernikus seine berühmte Abhandlung „De revolutionibus orbium coelestium“ im 16. Jahrhundert publizierte. Die romanische Periode der europäischen Kunst war zutiefst der islamischen Architektur, insbesondere derjenigen in Spanien, geschuldet. Ohne weiter ins Detail zu gehen, kann man mit einiger Berechtigung feststellen, dass die islamische Zivilisation, die im Süden Europas bis ins späte 12. Jahrhundert blühte und in ihren universalen Errungenschaften sogar den früheren Beitrag des römischen Reiches zur Entwicklung der Zivilisation übertraf, Europa aus seinem "dogmatischen Schlaf" im Mittelalter erweckte und so eine frühe europäische Renaissance im Sinne einer aufgeklärten, rationalen, undogmatischen Weltsicht vorbereitete. Der Einfluss war durchaus einseitig, da die europäische Zivilisation dieser Zeit ihrerseits nichts zur Entwicklung der islamischen Zivilisation beitragen konnte. Trotz dieses reichen kulturellen Einflusses, von dem die christliche Zivilisation in Europa profitierte, waren die Beziehungen auf der politischen Ebene nur selten von Offenheit und Toleranz geprägt. Zu den Ausnahmen zählte Karl der Große (747 – 814), der freundschaftliche Beziehungen zu den Abbasiden in Bagdad unterhielt. Harûn al-Râshid respektierte ihn sogar als Beschützer der orientralischen Christen mit bestimmten protokollarischen Rechten über Jerusalem. In einer viel späteren geschichtlichen Periode stellte Friedrich II. (1194 – 1250), der „König von Sizilien und Jerusalem", eine aufrichtige Offenheit gegenüber der islamischen Kultur unter Beweis – und dies trotz seiner Teilnahme an den Kreuzzügen. Er war begierig darauf, von den fortgeschrittenen islamischen Gelehrten zu lernen. Man muss aber festhalten, dass das Interesse dieser beiden europäischen Herrscher dem islamischen Reich im Osten galt, nicht dem auf europäischem Boden – mit dem Zentrum in Cordoba –, wo trotz des reichen kulturellen Einflusses eine politische Annäherung nie stattfand. Die politische Geschichte der islamisch-christlichen Beziehungen in Europa wird dominiert von der Bewegung der Kreuzzüge, die im 11. Jahrhundert begann und durch welche die Päpste die uneingeschränkte Vorherrschaft des Heiligen Stuhles auch und insbesondere über den christlichen Okzident zu sichern suchten. Die Kreuzzüge entwickelten sich schnell hin zu kolonialistisch-imperialistischen Unternehmungen, durch welche die europäischen Staaten ihre vitalen ökonomischen und Handelsinteressen sichern wollten. Die Religion diente lediglich als Vorwand für die kolonialistischen Pläne der europäischen Herrscher, welche nicht nur gegen die Muslime im Heiligen Land, sondern auch gegen das christliche byzantinische Reich gerichtet waren – was sich am deutlichsten im Vierten Kreuzzug zeigte, in dessen Verlauf der Doge von Venedig, Enrico Dandolo, im Jahr 1204 Konstantinopel eroberte und plündern ließ. Während die islamische "Reconquista" im Jahr 1187 durch die Rückeroberung von Jerusalem durch Salaheddîn erfolgreich war, führte die christliche Reconquista schließlich – mit dem Fall von Granada im Jahre 1492 – das Ende der islamischen Präsenz in Europa herbei. Allerdings hat im östlichen Teil Europas das neu aufstrebende türkische Reich im Jahre 1453 nicht nur Byzanz (Konstantinopel), das Zentrum des Ostchristentums, erobert, sondern sich schrittweise bis vor die Tore Wiens (1683) ausgedehnt. Trotz des reichen Einflusses der islamischen Kultur auf die Entwicklung der europäischen Gedankenwelt machte diese komplexe Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen im Westen, Süden und Osten Europas sowie im Nahen Osten einen aufrichtigen "Dialog der Kulturen" praktisch unmöglich. Im Rahmen der politisch-militärischen Konfrontationen jener Zeit diente gerade auf Seiten des Christentums die Religion als ideologisches Werkzeug zur Verteidigung der Interessen der europäischen Herrscher, inklusive des Inhabers des Heiligen Stuhles in Rom. Das erklärt die „Geschichte der vorsätzlichen und unbeabsichtigten Missverständnisse", welche die islamisch-christliche Begegnung in Europa über die Jahrhunderte hinweg charakterisierte. Dieser frühe "Kampf der Kulturen" – seit dem Mittelalter – hat ein Vermächtnis der Konfrontation, des Misstrauens und der Missverständnisse geschaffen, das bis in die Gegenwart wirkt. Die anti-islamischen Vorurteile in Europa, die jetzt in einer neuen Konstellation der Weltpolitik wieder virulent werden, sind die Widerspiegelung dieser früheren konfliktbestimmten Geschichte der islamisch-christlichen Beziehungen, wie sie sich in der Ausdehnung des islamischen Reiches in Europa seit dem 8. Jahrhundert, der darauf folgenden christlichen Reconquista und den Kreuzzügen darstellte. Im Kontext dieser konfliktträchtigen europäischen Begegnung mit dem Islam machte die in Europa vorherrschende Doktrin, wie Edward Said es formulierte, den Islam zum Außenseiter, ja zur Verkörperung des Fremden schlechthin, in Abgrenzung wovon die gesamte europäische Zivilisation vom Mittelalter an begründet wurde.[1] Mit dem Auftreten des europäischen Kolonialismus wendeten sich die Beziehungen zum Islam von europäischer Seite abermals hin zu politischer Beherrschung und "kultureller Bevormundung". Die europäische Machtpolitik hat die politische Landkarte des Nahen Ostens bis zum heutigen Tage geformt. Man suchte die politische und militärische Vorherrschaft durch den ideologischen Anspruch einer Überlegenheit des christlichen Europa über die arabisch-islamische Kultur zu legitimieren. Alte, seit den Kreuzzügen genährte Vorurteile wurden wieder belebt und sogar noch verstärkt. Diese Entwicklung ging Hand in Hand mit der Schaffung neuer politischer und staatsrechtlicher Gegebenheiten auf dem Gebiet von Palästina nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches – eine Neuorganisation, die insbesondere auf Kosten der historischen islamischen Präsenz in Jerusalem erfolgte.
(II)
Um die ideologische Herkunft vieler der oben beschriebenen Konfrontationen deutlicher zu erkennen, sollten wir uns kurz die unleugbaren dogmatisch-metaphysischen Ähnlichkeiten zwischen Islam und Christentum vergegenwärtigen, welche die Grundlage für einen aufgeklärten Dialog zwischen den beiden Kulturen auf theologischer, kultureller und politischer Ebene darstellen könnten. Es ist ein Gemeinplatz, dass beide Kulturen auf dem Glauben an einen einzigen Gott basieren. Monotheismus ist die Quintessenz ihrer religiösen Haltung zum Universum. Das Konzept der Einzigkeit (Einheit) – (wahdanía) – ist im Islam präziser und mit einem höheren Abstraktionsgrad ausgeprägt als im Christentum, in dessen an der Dreifaltigkeit ausgerichteter Gottesvorstellung auch Relikte des Polytheismus gesehen werden können. Das islamische Gottesverständnis könnte dazu beitragen, dass das Christentum seine eigene Konzeption des Monotheismus klärt und allfällige anthropomorphe Elemente im Dogma der Dreifaltigkeit des einen Gottes kritisch hinterfragt.[2] Weiters sind beide Religionen universeller Natur und so für die gesamte Menschheit offen. Ihre Vorstellung von Gott ist nicht die eines Stammesgottes; sie schließt alle Formen von Diskriminierung bezüglich der Teilhabe an der Gemeinschaft der Gläubigen aus. Die Universalität ihrer Verkündung mag zwar Rivalität zwischen den beiden Religionen erzeugen, insofern diese versuchen, die gesamte Menschheit zu erreichen, aber gleichzeitig unterstreicht diese Universalität ihre Offenheit gegenüber allen Rassen, Völkern, Volksgruppen und Sprachgemeinschaften. Ein besonderer verbindender Faktor im Bereich der Theologie ist die zentrale Rolle, welche der Islam Jesus unter allen Propheten zuschreibt. Die christlichen Glaubensüberzeugungen von der unbefleckten Empfängnis und der Sündelosigkeit Jesu werden auch vom Islam hochgehalten. (Allerdings darf der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Bekenntnissen nicht übersehen werden, der darin besteht, dass von der einen Glaubensgemeinschaft Jesus als der Sohn Gottes, von der anderen jedoch als einer unter mehreren Propheten, wenn auch der erhabenste unter ihnen, gesehen wird.) Auch hinsichtlich der Auferstehung und des Jüngsten Gerichtes finden sich in den beiden Religionen ähnliche Auffassungen. Diese "strukturellen" Ähnlichkeiten des metaphysischen Dogmas wurden aber nie zur Grundlage für einen aufrichtigen Dialog zwischen den beiden Religionen. Besonders für das Christentum waren die dogmatischen Unterschiede immer wichtiger; die Einstufung des Propheten Mohammed als "Ketzer" hat die Beziehungen über die Jahrhunderte hinweg vergiftet. Vertrauensmangel, ja tiefes Misstrauen bestimmte dauerhaft das Verhältnis der beiden Gemeinschaften, was teilweise auch als Resultat der jahrhundertelangen bewaffneten Auseinandersetzungen in Europa und im Nahen Osten gesehen werden kann. Feindselige Voreingenommenheit gegenüber dem Islam zeichnet noch immer viele europäische Herangehensweisen an Fragen der islamischen Welt aus – sowohl bezüglich ihrer religiösen Dogmen als auch ihrer ethischen Normen, der aus diesen resultierenden Lebensweise, usw. Wie der in Österreich geborene pakistanische Denker Muhamad Asad treffend feststellte, identifizierte Europa die militärischen Bedrohungen durch islamische Mächte – speziell das Osmanische Reich – mit dem Islam als solchem, und somit mit der Botschaft des Propheten.[3] Ein weiteres Hindernis für wirkliches Verständnis und Dialog bestand darin, dass über lange Zeit hinweg die europäische Islam-Forschung in den Händen von christlichen Missionaren lag, die an das Thema in einer apologetischen und stark polemischen Weise herangingen. Daraus resultierte ein seltsam verzerrtes Bild des Islam in all seinen religiösen, politischen wie sozialen Aspekten. Diese Ausrichtung der herrschenden Lehre hatte ihrerseits einen tief greifenden negativen Einfluss auf das Bild des Islam in der öffentlichen Meinung Europas, welcher bis in die Gegenwart nachwirkt. Die Disziplin, die sich heutzutage als "Orientalismus" etabliert hat, hat ihre historischen Wurzeln in der apologetischen Herangehensweise des Christentums an den Islam; dieses sah die christliche Lehre von vornherein in einer Position der Überlegenheit gegenüber der islamischen "Häresie". In seinem richtungweisenden Buch "Orientalismus" stellte Edward Said treffend fest: "Orientalismus braucht für seine Strategie eine Position der Überlegenheit, die den westlichen Menschen in eine Reihe von möglichen Beziehungen zum Orient stellt, ohne dass er jemals die Oberhand verliert."[4] Dieser eurozentrische Ansatz ist bis zum heutigen Tage eines der hauptsächlichen Hindernisse für ein Verständnis zwischen Muslimen und Christen. Dieser Interpretationsansatz versagt komplett vor der Aufgabe, die herrschenden Vorurteile als Erbe früherer Auseinandersetzungen kritisch zu hinterfragen. Im Gegenteil: er verstärkt diese Stereotype in der Form der neuen Doktrin vom "Kampf der Kulturen" (clash of civilizations), wonach der Islam als Bedrohung der Sicherheit Europas und als der Aufrechterhaltung seiner freiheitlichen ("liberalen") Wertordnung und Lebensform hinderlich dargestellt wird. Orientalismus, d.h. die moderne Disziplin der Islam-Studien, ist in mancherlei Hinsicht, vor allem was ihre normativen Aussagen betrifft, Teil eines neuen ideologischen "Kreuzzuges" unter den Bedingungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Eines der Vorurteile, welche die Beziehungen zwischen Islam und Christentum seit der Zeit der Kreuzzüge und den Kriegen mit dem Osmanischen Reich beeinträchtigen, ist dasjenige vom feindseligen Wesen des Islam, und zwar sowohl in seiner religiösen wie politischen Botschaft. Dieses Stereotyp ist im Umfeld der christlichen Interpretation des koranischen Begriffs des (jihâd) angesiedelt und mag als Beispiel dafür dienen, wie viel Arbeit noch zu erledigen ist, wenn man eine faire und ausgewogene Vermittlung der islamischen Botschaft in Europa anstrebt. Christliche Gelehrte dozierten über Jahrhunderte hinweg, dass der Islam allgemein und vorbehaltlos den Krieg gegen Nichtgläubige, das heisst die Christen selbst, rechtfertige. Bestimmte Ausschnitte des Koran wurden und werden vorsätzlich aus dem Zusammenhing gerissen – mit der Absicht, eine aggressive Natur des Islam zu "beweisen". Es ist insbesondere die Sure VIII, 39, welche für diese Zwecke instrumentalisiert wird. Vorsätzlich werden dabei die klaren Vorbehalte in Sure XXII, 39 übersehen, wonach Gewalt nur im Fall der Selbstverteidigung zulässig ist (Erlaubnis ist denen gegeben, die kämpfen, weil ihnen Unrecht geschah), bzw. das Gebot in Sure II, 190, wo dieses Prinzip sogar noch prägnanter zum Ausdruck kommt:
(Und kämpfet für die Sache Allahs gegen jene, die Euch bekämpfen, aber überschreitet das Maß nicht, denn Allah liebt nicht die Maßlosen.) Die Fehlinterpretation der Lehre des Koran hinsichtlich der Anwendung von Gewalt ist das Beispiel par excellence für das verzerrte Bild des Islam in der christlichen Dogmatik. Die dadurch erzeugte Atmosphäre tiefen Misstrauens hat ihrerseits wiederum die falsche Wahrnehmung des Islam als einer Bedrohung für die christliche Zivilisation in Europa, ja als einer Religion, die das Existenzrecht des Christentums verneine, prolongiert. Mit diesem Vorurteil vom „feindseligen" Wesen des Islam geht ein anderes Vorurteil einher, wonach der Islam religiöse Freiheit ablehne, weshalb er mit der liberalen Weltsicht des säkularisierten Europa unvereinbar sei (welch letzteres nichtsdestotrotz seine Identität auf der Grundlage der christlichen Geschichte definiert, wenngleich die säkulare soziale Wirklichkeit anders aussieht). Viele "Orientalisten" und Islamexperten scheinen die sehr klare Formulierung in Sure II, 256 absichtlich zu übersehen:
(Es soll kein Zwang sein im Glauben.) Im Hinblick auf diese Aussage kann der Begriff des Jihad unter keinen Umständen dazu verwendet werden, eine feindselige oder aggressive Einstellung des Islam zum Christentum zu beweisen. Sogar heutzutage werden solche Vorurteile immer noch in akademischen Vorträgen und durch Schulbücher propagiert. Bewusste Verzerrung, das Weglassen von zusätzlichen erläuternden Textstellen, und das Herausreißen bestimmter Formulierungen aus dem Gesamtzusammenhang im Koran machen die Notwendigkeit eines neuen hermeneutischen Ansatzes im muslimisch-christlichen Dialog in Europa mehr als deutlich. Die Teilnehmer des Symposions über den Begriff des Monotheismus im Islam und im Christentum, das 1981 in Rom stattgefunden hat, haben eindringlich auf die Notwendigkeit hingewiesen, diese einseitigen Haltungen zu korrigieren: „... eines der wesentlichen Hindernisse für ein ausgewognes Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen Islam und Christentum ist das Fortbestehen von falschen Stereotypen in Schulbüchern. Ein konkretes Aktionsprogramm muss erarbeitet werden, in dessen Rahmen alle Schulbücher im Hinblick darauf zu überprüfen und zu revidieren sind, dass Christen schon von jungen Jahren an mit der wahren Kultur des Islam und mit dem Ausmaß von dessen Nähe zum und Gleichheit mit dem Christentum vertraut gemacht werden."[5]
(III)
Es ist offensichtlich, dass auch in der heutigen Situation in Europa eine bestimmte Interessenkonstellation die hier geschilderten, über einen langen Zeitraum tradierten Vorurteile aufrechterhält. Seit dem Ende des Kommunismus und dem Verschwinden des damit einhergehenden (ideologischen) Freund-Feind-Schemas dient der Islam in vielfacher Hinsicht als Ersatz für das frühere Feindbild, durch welches der Westen seine weltweite Vorherrschaft ideologisch durchzusetzen versuchte. Diese neue internationale Konstellation, in welcher der Islam als Bedrohung für die europäische Identität und Sicherheit dargestellt wird, wirkt sich direkt auf die islamisch-christlichen Beziehungen in Europa aus. Samuel Huntingtons These vom "Kampf der Kulturen" (clash of civilizations)[6] dient als Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung der oben beschriebenen historischen Vorurteile. Die Existenz größerer Gemeinschaften von Muslimen – hauptsächlich von Gastarbeitern – hat in Europa zunehmend zu ablehnenden, oftmals sogar feindseligen Reaktionen geführt. Diese Gemeinschaften wurden und werden wiederholt als Bedrohung für den sozialen und kulturellen Zusammenhalt Europas dargestellt. Unter diesen Umständen ist es sehr schwierig, eine Atmosphäre des Dialoges und der Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten bzw. zu fördern, zumal dann, wenn politische Gruppierungen in Europa vorsätzlich traditionelle anti-islamische Vorurteile ausbeuten, ja sie sogar schüren. Die gegen die weltweit als Islam-Expertin anerkannte deutsche Professorin Annemarie Schimmel geführte Kampagne wie auch die frühere sog. Rushdie-Affäre haben einer besorgten Öffentlichkeit eindringlich vor Augen geführt, dass die reale Gefahr eines neuen "Kulturkampfes" in Europa besteht. Frau Schimmel wurde trotz – oder gerade wegen – ihrer lebenslangen Bemühungen um ein ausgewogenes und objektives Bild des Islam in Europa – und in der westlichen Welt insgesamt – verleumdet. Eine sehr negative, oftmals geradezu obstruktive Rolle spielten und spielen diesbezüglich die Medien, die in einem beträchtlichen Ausmaß unter dem Einfluss von Partikularinteressen stehen. Manche der neueren Produktionen der amerikanischen Filmindustrie haben nicht unwesentlich zur Verfestigung eines Feindbildes auf Kosten des Islam und zum Schaden der muslimischen Gemeinschaften auf unserem Kontinent beigetragen. Die islamisch-christlichen Beziehungen sind in der derzeitigen historischen Konstellation auch wesentlich vom Schicksal der Muslime in Bosnien-Herzegowina beeinflusst. Das tief verwurzelte Misstrauen gegenüber dieser muslimischen Gemeinschaft in Europa war unzweifelhaft einer der Gründe für die anfängliche Untätigkeit Europas in der entscheidenden Phase nach dem Zusammenbruch der Jugoslawischen Föderation. Die europäische Passivität angesichts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ja der ethnischen "Säuberungen" und von Akten des Völkermordes in Bosnien hat die islamisch-christlichen Beziehungen nicht nur in Europa, sondern auf weltweiter ökumenischer Ebene schwerstens beeinträchtigt. Die Tatenlosigkeit – bzw. zunächst unterlassene Hilfeleistung – kann nur durch die lange Geschichte der islamisch-christlichen Konfrontationen, wie wir sie hier angedeutet haben, erklärt werden. Die Tragödie in Bosnien ist ein weiteres trauriges Beispiel, welches uns vor Augen geführt hat, wie wenig sich die theologische und philosophisch-metaphysische Nähe der beiden Religionen – bzw. Kulturen – bis jetzt auf die konkrete soziale und politische Realität ausgewirkt hat. Ein anderer wichtiger Faktor der muslimisch-christlichen Beziehungen im Europa der Gegenwart ist zweifelsohne der arabisch-israelische Konflikt in Palästina – und insbesondere die Auseinandersetzung um den Status von Jerusalem. Wie Edward Said eindringlich gezeigt hat, ist ein besseres gegenseitiges Verständnis und eine harmonische Zusammenarbeit zwischen Christen und Muslimen nicht unbedingt im Interesse des jüdischen Staates in Palästina und seiner Unterstützer in- und außerhalb Europas.[7] Andererseits ist die israelische Besetzung von Jerusalem nicht nur für die Muslime, sondern auch für die Christen insgesamt nicht akzeptabel. In der gegenwärtigen Konstellation eröffnet die Jerusalem-Frage eine Möglichkeit für ein gemeinsames Agieren der beiden Glaubensgemeinschaften, insofern es um eine koordinierte Strategie zur Wiederherstellung des Völkerrechts und um die Beachtung der Rechte aller monotheistischen Religionsgemeinschaften in der heiligen Stadt geht. Generell kann gesagt werden, dass die muslimisch-christlichen Beziehungen in Europa am Ende des zweiten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung in eine entscheidende Phase getreten sind. Dies haben die schwierigen Bedingungen für die Gemeinschaften der muslimischen Migranten und Migrantinnen und der Umgang der europäischen Staaten mit der Krise in Bosnien ausreichend deutlich gemacht. Das Erbe der Reconquista und der Kreuzzüge ist leider immer noch spürbar, und zwar besonders seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, mit welchem auch ein Feindbild verschwunden ist, welches andere historische Animositäten für beinahe ein halbes Jahrhundert überlagert bzw. absorbiert hatte. Der gegenwärtige Zustand der islamisch-christlichen Beziehungen in Europa ist charakterisiert durch neue Formen der Konfrontation, die jedoch durch die aus den vergangenen Jahrhunderten aufrechterhaltenen Vorurteile genährt werden. Sogar Teile der intellektuellen Elite Europas üben sich in der Pflege des Feindbildes "Islam", wie an manchen Stellungnahmen zur sog. Rushdie-Affäre oder an der Behandlung christlicher Gelehrter, die – so wie Annemarie Schimmel – ein ausgewogenes Bild des Islam zu entwerfen bemüht sind, ersichtlich ist. Es scheint, als ob Europa in der derzeitigen Konstellation – mit dem ideologischen Vakuum, das der Zusammenbruch des Sowjetblockes hinterlassen hat – noch nicht bereit sei, die alten Vorurteile und Feindbilder aufzugeben. Die apologetische, eifernde Beschäftigung der früheren christlichen Theologie mit dem Islam, welche diesen als fehlgeleitete Version des Christentums betrachtete ("Arabia haeresium ferax"), überlebte in säkularisierter Form in einem säkularisierten Europa: die islamische Kultur wird ausschließlich vom Standpunkt unseres europäischen Wertesystems aus betrachtet. Die aktuellen politischen Entwicklungen im Nahen Osten und in Nordafrika, die islamischen Erneuerungsbewegungen in diesen Regionen werden als Bedrohung vitaler europäischer Interessen wahrgenommen. Die muslimischen Migranten und Migrantinnen werden als potentielle Verbündete dieser neuen Bewegungen gesehen, woraus eine Bedrohung der kulturellen Identität Europas abgeleitet wird. In diesem speziellen Zusammenhang „gibt es eine Übereinstimmung über den 'Islam' als eine Art Sündenbock für alles, was uns an den neuen politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen nicht gefällt.“ (Edward Said)[8] Vor diesem Hintergrund müssen wir die zukünftigen Beziehungen zwischen Muslimen und Christen in Europa sorgfältig bewerten. Angesichts der neuen Spannungen sollte auf keinen Fall Huntingtons Paradigma vom Kampf der Zivilisationen die Richtlinie sein. Wie sich an den jüngsten (welt)politischen Auseinandersetzungen gezeigt hat, dient diese Doktrin hauptsächlich den Interessen derer, die eine neue Rechtfertigung für die fortgesetzte Bevormundung der islamischen Welt suchen – ein Herrschaftsinteresse, das eng mit den Konflikten im Nahen und Mittleren Osten, insbesondere mit dem arabisch-israelischen Konflikt, zusammenhängt. Jede zukünftige Perspektive muss auf der Vorstellung des Dialoges der Zivilisationen basieren, was die Gleichheit der Partner – und nicht ein Verhältnis der Über- und Unterordnung – zur Voraussetzung hat.[9] Die alten eurozentrischen Dogmen der Orientalisten und die damit zusammenhängende Ideologie der Überlegenheit der christlich-westlichen Zivilisation müssen auf Dauer überwunden werden. Darin – und nicht in der Dämonisierung des Islam – liegt der tiefere philosophische Sinn der europäischen "Aufklärung". Unserer Meinung nach sollte ein aufrichtiger Dialog auf der strukturellen Ähnlichkeit der monotheistischen Botschaft des Christentums und des Islam aufbauen. Dies wird nur um den Preis eines Verzichtes auf die bisherige "missionarische" Ausrichtung möglich sein. Die Existenz des Islam in Europa – repräsentiert nicht nur durch die muslimische Bevölkerung in Bosnien, sondern auch durch die muslimischen Gemeinschaften in anderen europäischen Staaten – soll nicht mehr als Bedrohung gesehen werden, sondern als Chance, Brücken des Verständnisses zwischen dem Islam und dem Westen zu bauen. Die multikulturelle Gesellschaft wird in Europa als Faktum akzeptiert werden müssen, wenn wir die zunehmende Entfremdung zwischen den beiden Religionen und Kulturgemeinschaften – sowohl innerhalb wie außerhalb unseres Kontinents – hintanhalten wollen. In diesem Zusammenhang sollte man auf die selektive und polemische Verwendung des Begriffes "Fundamentalismus" ein für alle mal verzichten. Nur zu oft hat dieser Begriff dazu gedient, die Bewegung der islamischen Erneuerung und den Islam als Ganzes zu diskreditieren. Dieser Begriff soll durch einen präziseren Terminus ersetzt werden, der das Phänomen von religiösen Fanatismen in allen Religionen angemessen beschreibt. Die Entwicklung des Konfliktes um die Souveränität über Palästina und Jerusalem wird einen beträchtlichen Einfluss auf die zukünftigen Beziehungen zwischen Muslimen und Christen in Europa haben. Nur wenn die europäische Position als fair und ausgewogen – und nicht als gegen grundlegende islamische Rechte in Jerusalem gerichtet oder als die Besatzungsmacht in Palästina einseitig unterstützend – gesehen wird, kann das Verständnis zwischen Muslimen und Christen vorangetrieben werden. Das Misstrauen, das aus der früheren kolonialen Präsenz Europas in der Region herrührt, kann nur durch eine faire Politik, welche die islamischen Rechte im Nahen Osten berücksichtigt, überwunden werden. In dieser Bewertung der Zukunftsperspektiven darf man nicht eine gewisse kulturelle "Disparität" – gewissermaßen ein Auseinanderdriften des kulturellen Selbstverständnisses – verdrängen, die ein ernstes Hindernis für Dialog und gegenseitiges Verständnis werden könnte. Entgegen anders lautenden Erklärungen ist es eine unleugbare Tatsache, dass das säkularisierte Europa seines religiösen (christlichen) Bewusstseins – manche würden sogar sagen: seiner christlichen Identität – weitgehend verlustig gegangen ist, während die islamische Welt zur gleichen Zeit eine Renaissance dieses ihres religiös-kulturellen Bewusstseins (Selbstverständnisses) erfährt. Beide Gemeinschaften, so scheint es, sehen einander auf der Basis eines unterschiedlichen hermeneutischen Rahmens und von unterschiedlichen Wertesystemen und anthropologischen Voraussetzungen aus. Es wird von allerhöchster Wichtigkeit sein, dass beide Seiten, sowohl Christen wie Muslime, es nicht zulassen, dass Dritte auf ihre Beziehungen in Europa Einfluss nehmen. Jeder zukünftige Dialog muss, wenn er nicht zum Scheitern verurteilt sein soll, direkt sein und soll nicht durch geopolitische Interessen außenstehender Parteien – welcher Provenienz auch immer – determiniert werden. Die Zukunft der Beziehungen zwischen Christen und Muslimen in Europa darf nicht überschattet sein von einer Wiederbelebung des Geistes der Kreuzzüge, sondern sollte geleitet sein vom beiderseitigen Wissen um die grundlegenden theologischen Wahrheiten und moralischen Werte, die beiden Zivilisationen gemeinsam sind. Die strukturelle Ähnlichkeit der religiösen Botschaft beider Religionen kann als Basis dienen für eine bessere soziale, kulturelle und politische Verständigung.
[2] Zur Frage des Monotheismus siehe Hans Köchler (Hrsg.), The Concept of Monotheism in Islam and Christianity. Wien: International Progress Organization/Braumüller, 1982. [3] Vgl. Muhamad Asad und Hans Zbinden (Hrsg.), Islam und Abendland. Begegnung zweier Welten. Olten/Freiburg i. Br.: Walter-Verlag, 1960, S. 193. [4] "Orientalism depends for its strategy on positional superiority, which puts the Westerner in a whole series of possible relationships with the Orient without ever losing him the relative upper hand." (Orientalism, S. 7.) [5] The Concept of Monotheism in Islam and Christianity, S. 133. [6] „The Clash of Civilisations?“ in: Foreign Affairs, Bd. 72, Nr. 3, Sommer 1993, S. 22-46. Vgl. auch Huntingtons Buch: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster, 1996. Der Begriff wurde ursprünglich vom Orientalisten Bernard Lewis geprägt. Siehe seinen Artikel „The Roots of Muslim Rage,“ in: The Atlantic Monthly, Bd. 266, September 1990, S. 60. [7] Vgl. insbesondere seine Analysen, in denen er auf die Rolle hinweist, die Israel einnimmt, wenn es um die Vermittlung der westlichen Sichtweise der islamischen Welt seit dem Zweiten Weltkrieg geht ("the role of Israel in mediating Western ... views of the Islamic world since World War II"): Covering Islam. How the Media and the Experts Determine How We See the Rest of the World. London / Henley: Routledge & Kegan Paul, 1981, S. 31. [8] "... there is a consensus on 'Islam' as a kind of scapegoat for everything we do not happen to like about the world's new political, social, and economic patterns." (Covering Islam, S. XV.) [9] Vgl. Hans Köchler und Gudrun Grabher (Hrsg.), Civilizations – Conflict or Dialogue? Studies in International Relations, XXIV. Wien: International Progress Organization, 1999. |