Al Ahdath Al Maghribia

Casablanca, Marokko

DER AUFSTAND DER ARABER

Interview mit Hans Köchler

24. März 2011

Arabischer Text in der Ausgabe vom 4. April 2011

Seit Beginn des Jahres 2011 revoltieren die arabischen Völker gegen die bestehenden Verhältnisse. Wie schätzen Sie diese „Revolutionen“ ein?

Ob es sich dabei tatsächlich um „Revolutionen“ handelt, wird die Zeit weisen. Was wir gegenwärtig beobachten können, ist ein Aufstand der arabischen Völker, der vor allem sozial motiviert ist, d.h. als Zeichen des Protestes gegen Ungerechtigkeit, wirtschaftliche Chancenlosigkeit (vor allem der Jugend) und jahrzehntelange politische Stagnation zu verstehen ist. Die Entwicklungen in Tunesien haben, so scheint es, zu einer Kettenreaktion in der ganzen arabischen Welt – und vielleicht sogar darüber hinaus – geführt. Bemerkenswert erscheint mir jedoch, daß nicht panarabische (gesamtarabische) oder islamische Anliegen (wie z.B. Palästina oder Jerusalem) im Vordergrund stehen, sondern die Probleme auf lokaler Ebene. Man muß wohl davon ausgehen, daß eine längere Zeit der politischen Instabilität im gesamten Mittleren Osten bevorsteht, wobei seriös zum jetzigen Zeitpunkt nichts über die konkrete Form der politischen Neuordnung, die aus den Aufständen resultieren wird, ausgesagt werden kann. Strukturell kann man jedoch einen Vergleich zu den Ereignissen im Bereich des ehemaligen Ostblocks nach 1989 anstellen. Nicht überall sind stabile Demokratien das Ergebnis der damaligen Umwälzungen gewesen; in mänchen Ländern haben sich neue autoritäre Herrschaftsformen etabliert.

Abgesehen von dem Willen dieser Völker, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen: gibt es „versteckte“ Hände hinter diesen „Revolutionen“?

Bei den ersten beiden Aufständen in Tunesien und Ägypten hat sich gezeigt, daß die Militärführungen der beiden Länder in direktem Kontakt mit den Vereinigten Staaten von Amerika gestanden sind und dazu „ermutigt“ wurden, die Präsidenten zu verjagen. Auch wenn der Volksaufstand durchaus authentisch war, so war die unmittelbare Folge in Ägypten ein effektiv von den USA unterstützter Militärputsch. Ob das Militär, so wie angekündigt, die Macht nach der versprochenen Organisation der Wahlen auch abgeben wird, muß sich erst zeigen. In Libyen dürften Frankreich und Großbritannien mit ihren Geheimdiensten eine vorbereitende Rolle gespielt haben. Das nunmehrige offene militärische Eingreifen einer von den USA geführten „Koalition der Willigen“ auf der Seite der Aufständischen in Libyen ist ein Hinweis darauf, daß der Westen den Entwicklungen zuvorkommen, ja in manchen Ländern sogar die Initiative ergreifen will. Insofern ist es durchaus zu verstehen, wenn manche Beobachter den Eindruck gewinnen, daß die westlichen Länder – insbesondere auch die ehemaligen Kolonialmächte – die arabische Revolution „stehlen“ möchten. Die humanitären Gründe sind nur ein fadenscheiniger Vorwand zur Kaschierung der machtpolitischen Interessen. Besonders skandalös scheint mir in diesem Zusammenhang der Mißbrauch der Vereinten Nationen für die Interessenpolitik der Westmächte in Libyen. Was die von Ihnen angesprochenen „versteckten Hände“ betrifft, scheint mir bemerkenswert, daß dort, wo die USA langjährige strategische Interessen im Bündnis mit bestimmten Regierungen haben (wie z.B. in Bahrain, dem Stationierungsort der amerikanischen 5. Flotte), eine direkte Einmischung gegen die Protestbewegung erfolgt. Der Einmarsch des saudischen Militärs (offiziell im Namen des Golfkooperationsrates) und die brutale Gewaltanwendung gegen die Demonstranten durch das bahrainische Militär erfolgte unmittelbar nach dem Besuch des US-Verteidigungsministers Gates in Bahrain. Dies belegt, daß der Westen – wie schon immer gegenüber der arabischen Welt – mit zweierlei Maß mißt und eine krude Interessenpolitik verfolgt. Die Menschenrechte werden nur eingefordert, wenn es propagandistisch nützlich ist. Trotz klar belegter Verbrechen gegen die Menschlichkeit seitens der Regierungen in Bahrain und Jemen haben die USA und ihre Verbündeten im Sicherheitsrat – anders als im Fall Libyens – keine Initiative ergriffen, diese Situationen an den Internationalen Strafgerichtshof zu verweisen.

Wie schätzen Sie die Entwicklungen in Tunesien und Ägypten nach der Revolution ein?

So weit ich es von außen überhaupt beurteilen kann, sind bis jetzt eher kosmetische Änderungen in den politischen Systemen der beiden Länder erfolgt. Die Präsidenten wurden davongejagt; und nachdem zuerst sogar die von diesen ernannten Regierungschefs und fast alle Minister im Amt verblieben waren, wurden inzwischen einige weitere Gesichter ausgetauscht. Für beide Länder gilt jedoch, daß die alten Machtstrukturen im wesentlich weiter bestehen, von einer „Revolution“ also nicht gesprochen werden kann. Ob es eine Entwicklung zu stabilen demokratischen Systemen geben wird, kann erst nach einem längeren Zeitraum seriös festgestellt werden. Es wird noch einige Zeit brauchen, bis sich die Zivilgesellschaft ausreichend artikulieren kann und authentische (nicht aus dem Hintergrund gesteuerte) politische Partien entstehen, die sodann in einen fairen Wettstreit treten können. Nur unter solchen Voraussetzungen machen Wahlen überhaupt einen Sinn.

Libyen steht vor einem Desaster und die „Revolution“ stockt. Wie schätzen Sie die Situation in diesem Land ein?

Die Lage hat sich innerhalb der letzten Woche aufgrund der ausländischen militärischen Intervention nochmals dramatisch geändert. Es besteht nunmehr die reale Gefahr einer Spaltung des Landes – mit möglicherweise weitreichenden Folgen für die Stabilität in Nordafrika und dem Mittelmeerraum. Dadurch, daß sich der Westen – gemeinsam mit zwei kleineren arabischen Ländern als Feigenblatt – auf der Seite der Aufständischen einmischt, ist der Konflikt noch brisanter und unübersichtlicher geworden. Besonders fragwürdig ist in diesem Zusammenhang die Rolle der Arabischen Liga, die quasi um die militärische Intervention des Westens gebettelt hat, nunmehr aber mit den voraussehbaren Folgen (nämlich der durch die Anwendung von Waffengewalt bewirkten Tötung weiterer Zivilisten) nicht zufrieden ist. Man kann nicht einerseits gegen ausländische Einmischung in arabische Angelegenheiten auftreten, andererseits (je nach Interessenlage) um eine solche Einmischung bitten.

Geht das System von Gaddafi zu Ende oder hat es Chancen, mit allen Mitteln die Macht zu behalten?

In einer so komplexen Situation eines innerstaatlichen Konfliktes, in den sich zudem die ehemaligen Kolonialmächte einmischen, sind genaue Prognosen nicht möglich. Man muß auch bedenken, daß Libyen im letzten Jahrzehnt zu einem engen Verbündeten (strategisch, geheimdienstlich, wirtschaftlich) derjenigen westlichen Länder geworden ist, die jetzt ein Ende des bisherigen Regierungssystems in Libyen fordern. Was klar sein dürfte, ist, daß die territoriale Einheit des Staates gefährdet ist. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß in den letzten Tagen sowohl der britische Verteidigungs- als auch der Außenminister eine gezielte Tötung des libyschen Revolutionsführers als von der UNO-Resolution 1973 autorisierten Akt nicht ausschließen wollten; tatsächlich hat man auch bereits (wie schon im Jahr 1986) Gebäude in seinem Hauptquartier mit Raketen angegriffen. Wo das Gesetz des Dschungels herrscht – und das ist die Beschreibung des durch die UNO-Resolution herbeigeführten gesetzlosen Zustandes, in dem sich gemäß der Interpretation der britischen Regierung jeder Staat ermächtigt fühlen darf, „alle notwendigen Maßnahmen“ (einschließlich der Tötung von Politikern) nach eigenem Gutdünken zu setzen –, sind genaue Vorhersagen nicht möglich.

Welche Gefahr riskiert man, wenn man die Regierung von Gaddafi zu stürzen versucht?

Wie schon erläutert, droht durch einen Umsturz in Libyen der Zerfall des Landes – und damit ein politisches Vakuum mit lang andauernder politischer Instabilität in der gesamten Region. Das Szenario von Somalia ist durchaus eine reale Gefahr. Weiters sollten sich die militärisch in Libyen eingreifenden Staaten darüber im klaren sein, daß im Ostteil des Landes das politische Vakuum durch die dort traditionell sehr starken islamischen Bewegungen gefüllt werden wird. Zudem könnten sich die europäischen Anrainerstaaten des Mittelmeeres mit einer neuen Einwanderungswelle aus dem afrikanischen Raum konfrontiert sehen. Nur eine stabile politische Ordnung in Nordafrika – und Libyen ist immerhin das Land mit der längsten Küste – wird es Europa ermöglichen, die Migrationsfrage fair und im Einvernehmen mit den nordafrikanischen Staaten zu lösen. Sollte auf dem Gebiet eines wichtigen Staates sich die Anarchie ausbreiten, sind die bereits geschlossenen Abkommen obsolet.

Es rumort in anderen arabischen Ländern, welches Land wird das nächste sein?

Was im Januar dieses Jahres begonnen hat, wird sich – ähnlich wie bei einer Kettenreaktion – im gesamten Mittleren Osten ausbreiten, da sich der Unmut über viele Jahrzehnte aufgestaut hat. Man kann für den Ablauf und die soziale Dynamik der Ereignisse durchaus auch das Bild des Dammbruches verwenden. Auch wenn man versucht, mit Waffengewalt gegenzusteuern, oder ausländische Hilfe anfordert (wie etwa in Bahrain), so kann der Gang der Geschichte nicht aufgehalten werden. Auch die Aufständischen sollten sich davor hüten, das Ausland – und insbesondere die Großmächte – zur Einmischung aufzufordern. Sie könnten sich sonst sehr bald in einer Situation wiederfinden, in der sie mit neuen Herren leben müssen, auch wenn sie sich der alten Herrscher entledigt haben. Auf Prophezeiungen über das bevorstehende Schicksal einzelner Länder möchte ich mich jedoch nicht einlassen. Seriös kann man nur den allgemeinen Trend beschreiben; was im einzelnen geschieht und wann es geschieht, hängt auch von den lokalen politischen, sozio-kulturellen, wirtschaftlichen, ethnischen und historischen Rahmenbedingungen ab, die in jedem Land ganz verschieden sind.

Welche positiven Konsequenzen haben diese „Revolutionen“?

Ein wichtiges Ergebnis des Aufstandes ist, daß die Völker Arabiens endlich die kollektive politische und soziale Lähmung überwinden, in der sie durch die herrschenden politischen Verhältnisse befangen waren. Trotz des nach dem Ersten bzw. Zweiten Weltkrieg in Gang gekommenen Prozesses der Entkolonisierung verblieben die meisten arabischen Länder in den letzten Jahrzehnten in einem Zustand der Abhängigkeit von der industrialisierten (westlichen) Welt. Die Herrschenden agierten über lange Zeit hinweg wie Vasallen der Vereinigten Staaten bzw. der ehemaligen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich. Vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges (1989ff) waren diese Länder als de facto westliche Protektorate nicht imstande, eigene Initiativen in der Region, geschweige denn auf der internationalen Bühne, zu entfalten. Insbesondere konnten sie in der von den Herrschenden selbst als zentrale Causa deklarierten Palästinafrage nichts erreichen, im Gegenteil: sie mußten sich mehr und mehr dem Diktat der mit Israel verbündeten Staaten unterwerfen. Es ist nicht erstaunlich, daß diese totale Passivität zu einem politischen Gesichtsversucht geführt und zur Delegitimierung der politischen Systeme in Arabien geführt hat. Mit dem durch den Untergang der Sowjetunion herbeigeführten Ende des Machtgleichgewichtes hatten die arabischen Länder – vor allem mangels wirtschaftlicher und militärischer Autarkie – jede Möglichkeit verloren, international eigenständig zu agieren.  Ihre Souveränität war vollkommen ausgehöhlt. Die Ereignisse der Golfkrise 1990/1991 haben zudem eine innerarabische Spaltung heraufberschworen, von der sich die Länder nie erholt haben. Sie wurden – auch durch eigenes Verschulden – zu Opfern der alten imperialen bzw. kolonialen Maxime des divide et impera („teile und herrsche!“). Die meisten politischen Führer waren in ihrem Machterhalt mehr oder weniger vom Wohlwollen der einzigen verbliebenen Supermacht abhängig oder versuchten (wie etwa im Fall Libyens im letzten Jahrzehnt) sich an diese anzubiedern. Ich habe nach dem Ende des Golfkrieges 1991 – also vor beinahe zwanzig Jahren – von einer Rekolonisierung der arabischen Welt gesprochen. Dieser Prozeß könnte jetzt nach und nach rückgängig gemacht werden, falls die neuen Volksbewegungen der Versuchung widerstehen, das westliche Ausland zur Hilfe zu rufen. Die politische Mündigkeit der Völker Arabiens und die Stärkung – bzw., in manchen Ländern überhaupt erst: Entstehung – einer Zivilgesellschaft sind sicher wichtige positive Aspekte des arabischen Aufstandes.

Umgekehrt, welche negativen Seiten haben sie?

Hier ist einerseits die mittelfristige Instabilität zu erwähnen, die mit diesem wie mit allen weltpolitischen Umbrüchen einhergeht. Eine Gefahr besteht, wie ich schon angedeutet habe, auch darin, daß die westlichen Länder eine Art Vormundschaft über die neuen sozialen Bewegungen auszuüben suchen (dort, wo es die Interessenlage der USA und ihrer Verbündeten gebietet) oder mit verbündeten Regierungen daran arbeiten, den Aufstand im Keim zu ersticken (wie etwa in der Golfregion). In beiden Konstellationen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, zeigt sich eine neue koloniale Agenda. Sollte die selbsternannte „internationale Gemeinschaft“ damit erfolgreich sein, würde das Emanzipationsprojekt der arabischen Völker langfristig scheitern. Eine weitere gefährliche Folge der jetzigen Aufstände könnte eine ethnische oder religiöse Zersplitterung der arabischen Gesellschaften sein, die in manchen Ländern auch zu Bürgerkriegen und Anarchie führen kann.

Reichen diese „Revolutionen“ aus, um die Demokratie in den arabischen Ländern zu sichern, oder sind sie eher ein Mittel für den Westen, weiter über diese Länder zu herrschen?

Die sozialen und politischen Umwälzungen, wie sie sich jetzt abzeichnen, sind in ihren Auswirkungen noch nicht überschaubar. Solide demokratische Verhältnisse können überhaupt erst über einen längeren Zeitraum hinweg erreicht werden. Die neuen Konstellationen sind fragil; der zu ihrer Absicherung notwendige gesellschaftliche Konsens ist wohl noch in keinem der betroffenen Länder erreicht. Wie schon gesagt, scheint es die Taktik des Westens zu sein, sich entweder an die Spitze der Bewegung zu setzen und so den Ausgang wesentlich mit zu bestimmen (Fallbeispiel Libyen) oder – wenn andere vitale Interessen auf dem Spiel stehen – die Aufstände einzudämmen bzw. abzuwürgen (Fallbeispiel Bahrain). Das Messen mit zweierlei Maß scheint hierbei die Maxime zu sein. Ich kann nur hoffen, daß die Araber diese Strategie durchschauen und sich nicht ein weiteres Mal auseinander dividieren lassen. Das Ergebnis des mit dem arabischen Frühling 2011 einhergehenden weltpolitischen Kräfteringens ist noch völlig offen. Die arabische Welt sollte die Gunst der Stunde nutzen und versuchen, sich als Akteur der im Entstehen begriffenen multipolaren Weltordnung zu etablieren.

 ***

Die Fragen stellte Dr. Hamid Lechhab.