AWP

ARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK AN DER UNIVERSITÄT INNSBRUCK

Univ.-Prof. Dr. Hans KÖCHLER

Vorstand des Institutes für Philosophie der Universität Innsbruck

DEMOKRATIETHEORIEN IM SCHNITTPUNKT VON VERFASSUNG UND POLITISCHER WIRKLICHKEIT

Verfasst für den Sammelband "Interdisziplinäre Demokratieforschung" (Hrsg. A. Pelinka und H. Reinalter), Serie "Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit", Bd. 11, 1998

Inhalt

(I) Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit - Der
machtpolitische Legitimationscharakter der Demokratietheorien

(II) Die Fiktionen der repräsentativen Demokratietheorie und die
normativen Inkonsistenzen der "Realverfassung"

(III) Demokratieideologischer Konsens im Zeichen der Neuen
Weltordnung? Zur Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels


© by Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaft und Politik an der Universität Innsbruck, 1995. All rights reserved.
 


(I)

Es ist das Charakteristikum nationaler wie internationaler Verfassungen, daß sie - in ihrem universalen Normsetzungsanspruch von den realen sozioökonomischen Gegebenheiten absehend - Ideale politisch-rechtlichen Handelns formulieren und dabei von einem abstrakten Verständnis des Menschen als ausgehen. In ihrem normativen Anspruch bleiben sie weitgehend - und notgedrungen - fiktiv. Im Spannungsfeld zwischen allgemeinem Ideal und politischer Wirklichkeit läuft jede Verfassung Gefahr, durch machtpolitische Kompromisse ausgehöhlt und zu einer bequemen (d.h. inhaltsleeren) Legitimationshülse für die jeweilige politische Praxis zu werden. Das Schlagwort von der "Realverfassung" soll systemkritisches Nachdenken unterbinden. Ob es sich um die  Doktrin vom "freien Mandat" im nationalstaatlichen oder von der "souveränen Gleichheit" der Staaten im internationalen Verfassungsbereich handelt: diese im jeweiligen Verfassungsgefüge zentralen Grundsätze belegen deutlich die Fiktionalität des ganzen Systems, denn für beide Doktrinen gilt, daß in der Realverfassung - einer parlamentarischen Demokratie bzw. der internationalen Rechtsordnung der Vereinten Nationen - das Gegenteil des in ihnen Postulierten der Fall ist. Ein ähnliches Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit zeigt sich im "klassischen" (westlichen) Menschenrechtsverständnis:  die grundlegenden Freiheitsrechte werden als bürgerliche und politische Rechte definiert, wobei von ihren konkreten Anwendungsbedingungen weitgehend abstrahiert wird.1)

Genau wie für die Doktrin der Menschenrechte gilt für eine Demokratietheorie, daß diese nicht "abstrakt" betrieben werden kann, wenn sie ein System von rechtlich-politischen Spielregeln verbindlich zu entwerfen beabsichtigt. Sie muß vielmehr die Einbettung dieser Regeln in die gesellschaftliche Wirklichkeit bedenken. Ein normatives Gerüst allein reicht nicht aus. Was dies demokratietheoretisch bedeutet, kann leicht am Begriff der politischen Freiheit gezeigt werden (mit Bezug auf die Doktrin der "freien" Wahlen, des "freien" Mandates etc.). Freiheit im Kontext öffentlichen Handelns ist nichts Abstraktes; Bedingung der Möglichkeit ihrer sinnvollen Ausübung ist die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Freiheit, d.h. das Freisein von der Not, vom physischen und geistigen Zwang usf. Jede Haltung, die über  dieses Bedingungsverhältnis hinweggehen zu können glaubt, ist  demokratietheoretisch unglaubwürdig. (Diese Problematik ist in  den Kontroversen um das Verständnis der Menschenrechte auf der Wiener UNO-Konferenz besonders deutlich geworden.)

Was das im Westen vorherrschende politische System betrifft, so wird das obige Bedingungsverhältnis in der Widersprüchlichkeit der Lehre und Praxis des "freien" Mandates besonders deutlich: ein "freies" Mandat gibt keinen Sinn, wenn die Freiheit lediglich normativ-abstrakt ist, d.h. wenn der Abgeordnete faktisch in von ihm nicht transzendierbare Interessenkonstellationen (mithin Zwänge) eingebunden ist. Eine solche Konstruktion bleibt letztlich fiktiv. Ebenso wird die Repräsentation des Volkes durch den Abgeordneten fälschlich als etwas Normatives gesehen (im Sinne der Verkörperung eines idealen Volksganzen, d.h. eines hypothetischen Volkswillens, im konkreten normsetzenden Akt), während es sich tatsächlich um ein faktisches (machtpolitisches, wirtschaftliches) Abhängigkeitsverhältnis handelt,2) was letztlich bedeutet, daß die Interessen der entsendenden Gruppe repräsentiert werden. Die unsere Verfassungsordnungen tragende Doktrin geht von der Fiktion einer universalen Repräsentation aus, obwohl die jeweilige Realverfassung nur eine partikulare Repräsentation (im Sinne eines imperativen Mandates mit Bezug auf die Weisungen der jeweiligen Lobby oder Partei) zuläßt.

Diese Beispiele sollen deutlich machen, daß die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes sich weltweit durchsetzende Demokratietheorie, die sich am Paradigma der Repräsentation orientiert, in ihrer realpolitischen Anwendung nicht unproblematisch ist. Eine kritische Analyse der herrschenden Doktrin der "Neuen Weltordnung" im Hinblick auf die versteckten oder offen zutage tretenden oligarchischen Strukturen des parlamentarischen Systems ist daher eine vordringliche Aufgabe, welcher sich Intellektuelle, die sich nicht zu Schleppenträgern der Inhaber der politischen Macht degradieren wollen, zu unterziehen haben.3) Man muß die Frage stellen, ob die Formulierung von Fiktionen in der jeweiligen Demokratietheorie und der auf ihr basierenden Verfassung4) nicht notgedrungen die Herausbildung von mit der Theorie in Widerspruch stehenden Realverfassungen provoziert. So könnte es sein, daß die für die Repräsentationsdoktrin (das zentrale Dogma des westlichen Parlamentarismus) entscheidende Fiktion des Volksganzen (und des diesem zugeordneten hypothetischen Volkswillens) zuallererst die Herausbildung oligarchischer Strukturen fördert. Die politische Wirklichkeit [Oligarchie] würde sich damit einer Legitimation bedienen, die genau das Gegenteil des Verwirklichten evoziert [Demokratie]. Ideologische Glaubwürdigkeit würde ersetzt durch eine machtpolitische Sprachregelung. Selbstverständlich gilt die Forderung nach einer kritischen Analyse der realpolitischen Umsetzung der normativen Inhalte auch für die Theorie der direkten Demokratie. Auch hier ist die Frage zu stellen, inwiefern die von der jeweiligen Verfassung getroffenen Grundannahmen mehr als vage Postulate sind. So setzt das Funktionieren des Modells der direkten Demokratie den allseits informierten und politisch engagierten Bürger voraus. Ohne  diese conditio sine qua non verkommen Formen der direkten Demokratie - wie auch das Schweizer Beispiel zeigt - zu bloßer Folklore bzw. zu offen oligarchisch-plutokratischen Systemen.5)  Das Ideal einer direkten Entscheidung des Bürgers ohne die  Mediatisierung durch eigenverantwortliche Funktionsträger muß mit der Notwendigkeit der Arbeitsteilung in einer immer komplexer werdenden technischen Zivilisation in Einklang gebracht werden, wie schon Hans Kelsen eindringlich gezeigt hat.6) So wird auch hier - wenn man von den Anwendungsbedingungen abstrahiert - ein an sich "richtiges" (d.h. dem normativen Inhalt angemessenes) demokratisches Prinzip graduell ausgehöhlt und in sein Gegenteil verkehrt. Das Extrem wäre sicherlich ein Führerstaat, der sich plebiszitär legitimiert. (Wobei die Gefahr diktatorischen Mißbrauchs durchaus auch dem repräsentativen Demokratiemodell mit seiner Verabsolutierung des Volksganzen und der Idealisierung der Repräsentations- als Führungsfunktion inhärent ist.)

Was angesichts dieser Gefahr des dialektischen Umschlagens der jeweiligen idealen Demokratiedoktrin in das reale machtpolitische Gegenteil not tut, ist ein intellektuell redlicher Umgang mit demokratischen Grundsätzen, der sich von einem bloßen Rechtfertigungsdiskurs unterscheidet. Ein Etikettenschwindel zu Legitimationszwecken kann sicher nicht Aufgabe der politischen Philosophie sein. Man wird einer Theorie nicht dadurch gerecht, daß man ihre Verwirklichung nur vortäuscht. Diese "normative Unglaubwürdigkeit" scheint jedoch den politischen Diskurs der "Neuen Weltordnung" insgesamt zu  charakterisieren, wie er durch Francis Fukuyamas Apotheose der "liberalen Demokratie" exemplarisch verkörpert wird.7) Die Legitimationsfunktion der Demokratietheorien ist nicht zu leugnen. Politische Wirklichkeit ist zunächst stets machtpolitisch bestimmt. So dient der jeweilige Diskurs mehr oder weniger offen der Sicherung der Herrschaft - auf nationaler wie auf internationaler Ebene.8) So wie innerstaatlich der Gegensatz zwischen den allgemeinen Verfassungsgrundsätzen und der Praxis der Realverfassung durch eine leicht handhabbare Doktrin geleugnet werden soll - im Bereich des parlamentarischen Systems ist dies die Repräsentationslehre -, soll im transnationalen Bereich die im eklatanten Widerspruch zum idealistischen Anspruch der UNO-Charta stehende machtpolitische Praxis des Sicherheitsrates durch eine interessenbestimmte Völkerrechtsdoktrin abgesichert bzw. akzeptabel gemacht werden.9) In beiden Fällen geht es um einen Kompromiß mit den Spielregeln der Machtpolitik, der stets als "Realpolitik" verkauft wird.10) Internationale Akteure - insbesondere die USA -, welche die weltweite Anwendung ihres "liberalen" Demokratiemodells propagieren, wollen gleichzeitig vergessen machen, daß sie die Einhaltung von dessen Spielregeln im zwischenstaatlichen Bereich zugunsten traditioneller Interessenpolitik systematisch verhindern.

(II)

Der politische Diskurs der Neuzeit bedient sich seit jeher des Schlagwortes der "Demokratie". Demokratie ist zu einer Art Adelsprädikat für fast schon beliebige politische Systeme geworden, wobei der machtpolitische Inhaber des Definitionsmonopols über die Zuerkennung entscheidet. Wie gerade die jüngere Geschichte vielfältig beweist, bedeutet die Reklamierung der "Demokratie" häufig eine Art Pauschalrechtfertigung für jedwedes politische Handeln bis hin zu internationaler Gewaltanwendung. Die Ideologie des bellum iustum lebt, wie die USA als Hüter der Neuen Weltordnung der Weltgemeinschaft vorexerzieren, im Namen der Demokratie und der Menschenrechte wieder auf. Bemerkenswert und den Philosophen immer wieder in Erstaunen versetzend ist die Selbstgerechtigkeit und ideologische Selbstgefälligkeit all derer, denen es gelingt, ihr politisches Handeln mit dem Schlagwort der Demokratie zu legitimieren, ja zu immunisieren. Es scheint uns daher wichtig, den der Verfassung zugrunde liegenden ideologischen Anspruch am Beispiel zentraler Fiktionen der vorherrschenden Repräsentationslehre näher zu untersuchen. Wie schon eingangs angedeutet, scheint es ein Charakteristikum jeder Verfassung zu sein, daß sie zunächst mehr verlangt bzw. verspricht, als sie zu realisieren bzw. zu halten vermag. Dies hat eine Art staatsbürgerlicher "Demoralisierung" zur Folge; der universale normsetzende Anspruch der Verfassung wird nicht mehr ernst genommen. Ein fortschreitender Prozeß der Aushöhlung ist unvermeidbar.

Das die westliche Demokratietheorie bestimmende Paradigma von der (freien) Repräsentation legt die Entscheidungskompetenz in die Hände gewählter Abgeordneter, während die Verfassungen festlegen, daß das Recht vom Volke ausgehe. Obwohl dem politisch mündigen Bürger eine Artikulation seines Wollens nur indirekt zugestanden wird und gemäß jeweiliger Verfassungsdoktrin eine Gruppe im Namen der Gesamtheit entscheidet, hält praktisch jede Verfassung an der Fiktion der Freiheit des Bürgers als politisch Handelnden fest. Während so bereits in der zugrunde liegenden Demokratietheorie und in ihrer jeweiligen verfassungsmäßigen Ausformung ein fundamentaler dogmatischer (normenlogischer) Widerspruch zwischen der Souveränität des Bürgers und der Abhängigkeit vom Wollen der von ihm erkorenen Herren angelegt ist,11) wodurch machtpolitische Willkür in der Anwendung der Grundsätze geradezu unvermeidbar wird (da die normenlogischen Widersprüche den hermeneutischen Spielraum in Richtung interpretatorischer Willkür erweitern), werden auch zentrale Dogmen bzw. Postulate dieser in sich widersprüchlichen Repräsentationsdoktrin in der gängigen Praxis außer Kraft gesetzt bzw. in ihr Gegenteil verkehrt. Dies soll an den Grundsätzen der Gewaltenteilung und des freien Mandates kurz exemplifiziert werden.

Für einen demokratischen Rechtsstaat im Rahmen des repräsentativen Paradigmas (für welches die Dichotomie Herrschende-Beherrschte konstitutiv ist) gilt das Prinzip der Gewaltenteilung als unverzichtbarer Bestandteil eines Systems, das nur durch checks and balances Legitimität gegenüber den Machtunterworfenen beanspruchen kann. Jede andere Organisationsstruktur würde unweigerlich die dem System inhärenten oligarchischen Elemente verstärken und das demokratische Selbstverständnis der jeweiligen Gemeinschaft ad absurdum führen. Die Exekutive darf nicht in den Kompetenzbereich der Legislative eingreifen bzw. sich über diese erheben, da damit das Prinzip der Volkssouveränität - der Grundpfeiler auch der hier zur Debatte stehenden indirekten, repräsentativen Demokratietheorie - in sein Gegenteil verkehrt würde. So zumindest lautet die Verfassungsdoktrin, so will es das Selbstverständnis des Verfassunggebers. In den "Realverfassungen" eines Großteils der parlamentarisch regierten Länder ist die Legislative jedoch nichts anderes als das Ausführungsorgan der Exekutive (hinter der wiederum die diversen Lobbies und Interessengruppen stehen). Die Trennung zwischen den beiden Gewalten ist nicht nur aufgehoben, das Verhältnis ist vielmehr umgekehrt. Die der Verfassung zugrunde liegende Demokratietheorie mit dem zugeordneten Modell der Rechtsstaatlichkeit erfährt durch die Praxis die Verkehrung ins Gegenteil. Der Legitimationsdiskurs, der demokratische Rechtsstaatlichkeit an die präzisen Kontrollmechanismen der Gewaltenteilung bindet und so ein von der Natur her oligarchisches System demokratisch "erträglich" machen soll, verschleiert so die treibende Kraft hinter den wesentlichen politischen Entscheidungen in einem parlamentarischen System. Die dominierende Rolle der Parteien (Lobbies, pressure groups usw.) soll aus Legitimationsgründen kaschiert werden. Denn genau diese Interessengruppen herrschen mithilfe der Regierung über das Parlament.12) Die Crux ist hier - wie in vielen anderen Bereichen der praktischen Philosophie -, daß die normativen Grundsätze (in der Demokratietheorie und der auf sie aufbauenden Verfassung) notgedrungen allgemein formuliert sind und die Anwendungsbedingungen in der Regel nicht konkretisiert werden. Die weitgehende Abstraktheit der Verfassungsbestimmungen (die losgelöst sind von der sozioökonomischen Wirklichkeit, in welcher sich eine konkrete Verfassung bewähren soll) bedeutet, daß es keine präzisen, allgemeinverbindlichen Kriterien zur Überprüfung der "Demokratiegemäßheit" bzw. der Verfassungskonformität der jeweiligen (macht)politischen Praxis gibt. So wie die Demokratietheorie in ihrer dogmatischen Festlegung sich über die soziale Wirklichkeit hinwegsetzt, indem sie die Fiktion einer idealen Repräsentation des Volksganzen durch einzelne, interessengebundene Funktionsträger hochhält, so begeht die Umsetzung dieser Theorie im Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung den Fehler einer weiteren "Idealisierung": sie geht davon aus, daß diejenigen, die über die machtpolitischen Instrumente zur Durchsetzung von Beschlüssen verfügen, im luftleeren, d.h. machtfreien Raum agieren, während in Wirklichkeit - aufgrund der faktischen wirtschaftlichen Interessenlage - die zum Gesetzesbeschluß Befugten nicht einmal die Mittel haben, um die Grundlagen für ihre Entscheidungen zu erarbeiten, da fast der gesamte bürokratische Apparat im Dienste der Exekutive bzw. den Parteien und Interessenvertretungen steht. Der Parlamentarier wird damit zum ausführenden Organ von Interessengruppen, die es gemäß dem idealen Verfassungsrahmen gar nicht gibt bzw. nicht geben darf. Dieser komplexe Zusammenhang wird durch die österreichische Praxis der "Sozialpartnerschaft" exemplarisch verdeutlicht. Das Parlament wird zu einer Bühne degradiert, auf der die von den eigentlichen Machthabern geschriebenen Texte zum besten gegeben werden.

Damit wird auch das in den Verfassungen parlamentarischer Staaten verankerte "freie Mandat" ad absurdum geführt. Das Adjektiv "frei" bezieht sich nicht mehr auf die Gewissensentscheidung des Abgeordneten, sondern auf die jeweilige Interessengruppe (Partei, Gewerkschaft), die über ihn machtpolitisch (vor allem was seine Karrierechancen betrifft) verfügt. Der aus der österreichischen Demokratiepraxis hervorgegangene decouvrierende Ausdruck vom "Klubzwang" macht die tatsächlichen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse exemplarisch deutlich: die Entscheidungskompetenz mag zwar der Papierform nach beim Abgeordneten liegen, er hat diese seine Befugnis durch seine Kandidatur auf einer Parteienliste jedoch de facto an die Partei abgetreten. Zuwiderhandeln wird in der Regel durch die Beendigung der politischen Karriere geahndet. Auch in diesem Fall ist die österreichische politische Terminologie decouvrierend: der Abgeordnete, der es wagt, wirklich frei, d.h. nur seinem Gewissen verantwortlich zu entscheiden, und der daher unter Umständen seinen angestammten Parlamentsklub verlassen muß, wird in diesem Fall als "wilder" Abgeordneter denunziert, obwohl er der einzig Freie in einer Gruppe der Ferngesteuerten ist, die ihre Verantwortung am Eingang des Partei- bzw. Klublokals abgegeben haben. Die Diktatur der Lobbies über den nach der Fiktion der Verfassung freien Abgeordneten steht nicht nur in eklatantem Widerspruch zum Repräsentationsdogma der Verfassung, sie ist mit den fundamentalen Grundsätzen der Demokratie - wie immer man diese auch auslegen mag - schlichtweg unvereinbar. Es versetzt den politischen Theoretiker immer wieder in Erstaunen, wie wenig die zur Rechtfertigung der Realverfassung getroffenen Sprachregelungen hinterfragt werden.

Durch die bisherige, nicht nur in Österreich geübte Praxis entziehen diejenigen, die den politischen Diskurs bestimmen, der Verfassung ihre Legitimationsgrundlage. Nach der Devise "Alles ist möglich" muß, wenn man schon das zentrale Prinzip der freien Mandatsausübung ins Gegenteil verkehrt, grundsätzlich jede andere Bestimmung zur Disposition gestellt werden können. Wenn die Legitimität einer demokratischen Ordnung repräsentativer Prägung gerade darin besteht, daß der Bürger sich einer Herrschaft unterwirft, weil ihre Ausübung präzisen Kontrollmechanismen unterliegt, so steht und fällt das System mit einer konsequent durchgeführten Gewaltenteilung. Sobald der Parlamentarier nicht mehr dem Bürger, sondern der ihn entsendenden Lobby verantwortlich ist bzw. faktisch von der Regierung kontrolliert wird, die ihm auch den Beschlußfassungsrahmen vorgibt, ist die Verfassung so weit ausgehöhlt, daß die Konsistenz ihres gesamten Normengefüges in Frage gestellt ist. So sind auch in der Verfassung verankerte freie Wahlen irrelevant, wenn die Entscheidungen schließlich nicht von dem Gremium getroffen werden, das der Bürger bestimmt, d.h. wenn die Gewählten von anderen gefaßte Beschlüsse lediglich formal nachvollziehen. Das vorhin am Beispiel des Verhältnisses von Legislative und Exekutive über die Gewaltenteilung Gesagte gilt übrigens auch für das Verhältnis von judizieller und exekutiver bzw. legislativer Gewalt: auch hier ist die Gewaltenteilung in vielen parlamentarischen Demokratien nicht konsequent durchgeführt. Aufgrund der Weisungsbefugnis des Justizministers gegenüber der Staatsanwaltschaft kann die Exekutive direkt in den Rechtsfindungsprozeß eingreifen bzw. diesen verhindern. Durch die Bestimmungen über die parlamentarische Immunität kann die Legislative sich vom Gelten der von ihr beschlossenen Gesetze in wesentlichen Bereichen ausnehmen. In beiden Fällen wird der universale Verbindlichkeitsanspruch der Verfassung unterminiert, da eben die Verfassung im Hinblick auf diese Bestimmungen selbst normative Inkonsistenzen enthält, die mit ihrem realpolitischen Zustandekommen und ihrer machtpolitischen Durchsetzbarkeit zu tun haben.

Ganz ähnlich ist es mit den Ausnahmebestimmungen in der Charta der Vereinten Nationen bestellt: auch hier bedeutet die mit dem Grundsatz von der souveränen Gleichheit der Staaten unvereinbare Vetoregel eine normative Inkonsistenz, welche die Legitimität der gesamten Völkerrechtsordnung, wie sie die Vereinten Nationen verkörpern, in Frage stellt.13) Gleichzeitig wurde eine Abstimmungspraxis etabliert, die im offenen Widerspruch zum Einstimmigkeitserfordernis (mit Bezug auf die Ständigen Mitglieder) des Art. 27 der Charta steht, da Stimmenthaltung nicht als im Widerspruch zu diesem Erfordernis stehend angesehen, d.h. als Zustimmung gewertet wird. Durch eine derartige Auslegungstradition werden die ursprünglichen Intentionen der "verfassunggebenden" Staaten ins Gegenteil verkehrt. Hier soll dieser exemplarische Hinweis auf die Dichotomie von idealistischem Anspruch in der UNO-Charta und machtpolitischer Wirklichkeit in der Praxis des Sicherheitsrates14) zur Illustration der transnationalen Aspekte unserer Thematik genügen.

Besonders deutlich wird das Auseinanderklaffen von Verfassung und politischer Wirklichkeit jedoch in Theorie und Praxis der Menschenrechte. Die im Westen vorherrschende Demokratietheorie sieht die Menschenrechte als Geltungsgrund jeder demokratischen Ordnung.15) Gemäß dem vorherrschenden Legitimationsdiskurs werden die Menschenrechte nur in der parlamentarischen Demokratie adäquat verwirklicht, da nur diese dem Status des Menschen als autonomen Subjektes gerecht werde. In diesem Sinne werden die Menschenrechte als Legitimationsgrundlage der jeweiligen Verfassungsordnung herangezogen.16) Hier soll nicht der Frage nachgegangen werden, ob die in den westlichen Verfassungen verankerte Form des Parlamentarismus und des freien Mandates (das in der Verfassungswirklichkeit ohnedies keine Entsprechung findet) tatsächlich die der Autonomie des Bürgers adäquate politische Struktur und damit im strengen Sinne menschenrechtskonform ist,17) und ob nicht etwa Formen der direkten Demokratie dem normativen Anspruch der in der Deklaration von 1948 verankerten bürgerlichen und politischen Rechte eher gerecht werden, vielmehr soll auf eine immer wiederkehrende Typik des Legitimationsdiskurses der liberalen Demokratie hingewiesen werden.

Die spezifische Strategie scheint jeweils darin zu bestehen, daß allgemein anerkannte Grundsätze, die sich auf den Status des Menschen als freien, autonomen Subjektes beziehen, unter Absehung von ihren sozioökonomischen und soziokulturellen Anwendungsbedingungen formuliert werden. So wie die Formulierungen über das freie Mandat in der Repräsentationslehre und Repräsentativverfassung von der realen gesellschaftlichen Eingebundenheit des Abgeordneten abstrahieren und damit die Willkür in der Anwendung dieses Grundsatzes geradezu herausfordern, so werden die Menschenrechte - als klassische "Freiheitsrechte" - nur in einem abstrakt-verkürzten Sinne zugelassen. Bürgerliche und politische Rechte werden unter weitgehender Absehung von den wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten deklariert, obwohl erstere nur durch letztere konkretisiert werden können. Damit hängt aber die gesamte Menschenrechtsdoktrin in der Luft, sie wird zum beliebig manipulierbaren Instrumentarium der Machtpolitik, da es keine präzisen Kriterien zur Feststellung der Anwendungsbedingungen gibt. Auch wenn z.B. wirtschaftliche Rechte nicht "einklagbar" sein mögen und wenn die (macht)politische Wirklichkeit nur eine verkürzte Auffassung im Sinne der klassischen Freiheitsrechte zuläßt, muß eine philosophische Kritik auf den Umstand verweisen, daß die Menschenrechte so zu einer reinen "Werthülse" degradiert werden, deren sich das jeweilige System zu Legitiomationszwecken bedient. Wir können hier eine ähnliche Struktur wie bei der Machtausübung im Namen des Volkes in Form der Repräsentation konstatieren: die Schaffung einer Fiktion soll die machtpolitische Praxis kaschieren helfen. Wenn die Anwendungsbedingungen der jeweiligen Norm offen gelassen werden, ist diese nicht operationalisierbar, der Betroffene kann sich nicht in nachvollziehbarer Weise darauf berufen. So wie die Menschenrechte ohne die Garantierung fundamentaler sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Rechte inhaltsleer und damit irrelevant bleiben, so bleibt das Postulat von der freien Ausübung des politischen Mandats unverbindlich, wenn so getan wird, als ob es nur den "ätherischen" Menschen gäbe, der frei von allen Interessen handeln könnte. Beiden Fiktionen ist gemeinsam, daß sie die tatsächlichen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse verschleiern.18) Der normative Anspruch der Verfassung bzw. der völkerrechtlich verbindlichen Deklaration muß dadurch notgedrungen an der realpolitischen Wirklichkeit scheitern. Gleichzeitig eröffnet die Postulierung fiktiver Grundsätze die Möglichkeit, die Anwendungsbedingungen selbst nach politischer Opportunität zu definieren. Darin liegt die Problematik der derzeitigen internationalen Menschenrechtsdiskussion, aber auch des Diskurses über die parlamentarische Demokratie und deren Menschenrechtskonformität.

 

(III)

Die vorhin aufgezeigten Beispiele haben deutlich gemacht, daß der Diskurs, mit dem die jeweilige politische Wirklichkeit legitimiert werden soll, von der willkürlichen Umdeutung zentraler Begriffe der Demokratie- und Menschenrechtstheorie lebt. "Demokratie" wird damit, ob man es will oder nicht, zu einem lucus a non lucendo, da ihre konkrete Verwirklichung gerade die Negation des zentralen Freiheitspostulates (mit Bezug auf den Bürger wie den Abgeordneten) impliziert. Nur ein System der direkten Demokratie könnte einen Weg weisen zwischen der Skylla der faktischen Negation des Bürgerwillens durch die Repräsentation und der Charybdis der Instrumentalisierung des Repräsentanten durch die Interessengruppen in der Realverfassung des Parlamentarismus. Beides - die Herrschaft über den Bürger im Namen der Demokratie wie die Vereinnahmung des angeblich freien Funktionsträgers durch demokratisch nicht legitimierte Interessen - macht den Demokratiebegriff inhaltsleer und zum reinen Legitimationsbegriff.19)

Die Frage, ob es ein konsistent formulierbares alternatives Modell einer Verfassungsordnung gibt, das dem normativen Anspruch der Demokratie genügt, kann hier nicht beantwortet werden. Die bisherige Praxis der direkten Demokratie gibt jeden falls keinen ausreichenden Hinweis, da auch hier die sozialen Rahmenbedingungen für die Inanspruchnahme des Rechts auf freie, direkte Mitbestimmung entscheidend sind. Der "menschenrechtsdogmatische" Vorteil, der darin besteht, dass ein direktdemokratisches System eine Mediatisierung des Bürgerwillens durch Repräsentanten ausschließt und damit der Autonomie besser gerecht wird, besagt noch nicht viel, solange die jeweilige Realverfassung nicht genau untersucht worden ist.

Angesichts dieser Problematik und der über einen langen Zeitraum geübten Praxis, durch welche die Verfassung erst als Realverfassung geschaffen worden ist, scheint die Frage berechtigt, ob man das faktische politische System nicht neu definieren sollte, damit ideologische Mißverständnisse vermieden werden können.So spricht einiges dafür, den Ausdruck "parlamentarische Demokratie" durch "parlamentarische Oligarchie" zu ersetzen,da es sich bei der demokratischen Entscheidungsfindung - sowohl auf der Ebene der Repräsentationsdoktrin wie der parlamentarischen Praxis mit Bezug auf den Repräsentanten - um eine reine Fiktion handelt. Zweifelsohne ist jede Verfassung einem dynamischen Prozeß der Auslegung ausgesetzt, der oftmals einer Aushöhlung ihrer Grundsätze gleichkommt. Die Verfassung und das ihr inhärente Demokratieverständnis sind einem ständigen Wandel durch die Realpolitik unterworfen. So bedeutet das "freie Mandat" nach einer jahrzehnte- oder gar jahrhundertelangen gegenteiligen Praxis eben etwas anderes als seinerzeit für den Verfassunggeber. Die Verfassung wird von der politischen Wirklichkeit "eingeholt". (Ein großer Teil der Jurisprudenz resultiert aus den komplexen semantischen Problemen, die sich aufgrund machtpolitischer Praxis ergeben.) Diese "Wirkungsgeschichte" im hermeneutischen Sinn, welcher die Verfassungsordnungen ob national oder transnational unterworfen sind, bedeutet, daß zentrale Verfassungsbegriffe sich in ihr Gegenteil verkehren; gemäß solcher politischen "Realdialektik" kann um auf die vorigen Beispiele zurückzukommen das freie Mandat angeblich nur über den Klubzwang ausgeübt werden; nach eben dieser Dialektik wird Stimmenthaltung auf zwischenstaatlicher Ebene als Zustimmung ausgelegt, wird im Namen der Gewaltenteilung Machtkonzentration praktiziert etc. etc.

Die politische Philosophie sollte gegenüber diesen von der Machtpolitik geschaffenen "hermeneutischen" Fakten für mehr intellektuelle Redlichkeit plädieren. Müßte man nicht nach jahrhundertlanger "oligarchischer" Praxis der Repräsentation schließlich ihren nicht-demokratischen Charakter eingestehen? Hans Kelsen hat den Weg für die politische Philosophie gewiesen, indem er zwischen organisatorischen Notwendigkeiten und rechtsdogmatisch-ideologischer Konstruktion einen klaren Trennungsstrich gezogen hat.20) Dies bedeutet allerdings, daß man das organisatorische Erfordernis der Arbeitsteilung nicht ideologisch überhöhen darf. Beschlußfassung nach den Strukturen der Repräsentation ist dann nicht das Sichtbarmachen eines höheren (Volks-)Ganzen, wozu der Bürger den Repräsentanten bräuchte, sondern Agieren nach einem allerdings frei interpretierbaren Auftrag des Wahlvolkes. Es ist klar, daß eine solche Herrschaft durch Stellvertretung, die sich zudem komplexer Techniken der Meinungsbeeinflussung ("Wahlwerbung") bedient,21) nicht mit dem Begriff der Volkssouveränitätvereinbar ist.22)

Es steht außer Zweifel, daß das Repräsentationsparadigma in der oben geschilderten Auslegungspraxis über Jahrzehnte der Nachkriegsgeschichte z.B. zum Aufbau einer stabilen wirtschaftlichen und politischen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland wie in anderen westlichen Staaten beigetragen hat. Uns stellt sich jedoch gerade in der jetzigen Situation die Frage der ideologischen Redlichkeit: müßten nicht die im wesentlichen oligarchischen Umsetzungsformen der in den meisten westlichen

Verfassungen verankerten Demokratietheorien letztlich zu einer Infragestellung des repräsentativen Paradigmas führen? Ist nicht (wie der Verf. mehrfach an anderen Stellen zu zeigen gesucht hat) in der repräsentativen Spielart der Demokratietheorie unvermeidbar ein nicht-demokratisches Element grundgelegt? Und wäre die Praxis mithin nicht zu wesentlichen Teilen ohnedies konsequente Umsetzung einer von vornherein nicht demokratischen Ideologie? Der herrschaftliche Diskurs der gängigen Repräsentationslehre enthält bereits das Schema der Über- und Unterordnung, wie es für die Doktrin der Machtausübung durch Stellvertreter typisch ist. Die Praxis einer weitgehend undemokratischen (d.h. oligarchischen) Realverfassung wäre damit nicht Hinweis auf einen Systemfehler, sondern nur die Folge einer in sich widersprüchlichen - in demokratischer Hinsicht "unehrlichen" - Theorie, die sich zu Legitimationszwecken eines positiv besetzten Begriffes bedient.

Sollte man angesichts dieses Sachverhaltes jetzt, da sich das Ende der Nachkriegsordnung abzeichnet, nicht auch die sie tragende Ideologie kritisch hinterfragen, anstatt unter dem Slogan einer Neuen Weltordnung in die alten ideologischen Rechtfertigungsschemata zu verfallen? Wäre das Zusammenbrechen der alten ideologischen - nicht nur machtpolitischen - Ordnung des Kalten Krieges nicht ein guter Anlaß für diesen Paradigmenwechsel?Das Scheitern des sozialistischen Staats- und Gesellschaftsmodells rechtfertigt intellektuell sicher nicht eine Haltung der Selbstbestätigung bzw. Selbstbeglückwünschung hinsichtlich der Überlegenheit des "liberalen" Demokratiemodells. Die Rhetorik der Neuen Weltordnung, wie sie sich in Francis Fukuyamas ideologischer Programmatik manifestiert,23) ist der Aufgabe des politischen Philosophen nicht angemessen. Die simple Gleichung zwischen wirtschaftlich-industrieller Entwicklung und Demokratie, wie sie von ihm aufgestellt wird,24) verdeckt vielmehr die mangelnde demokratische Legitimität gerade der hoch entwickelten Industriegesellschaften.25) Der Hinweis auf soziokulturelle Auffassungsunterschiede hinsichtlich der Konzeption der "liberalen Demokratie" zwischen Europa, den USA und Asien26) vermag hier ebenso wenig weiterzuhelfen wie die Umprägung von Begriffen. Wenn das Weiterbestehen traditioneller Gruppenhierarchien und einer autoritären Gesellschaftsstruktur als mit dem "formal commitment to democratic universalism and equality" vereinbar angesehen wird,27) dann wird der Begriff der Demokratievollkommen inhaltsleer, er wird zur "Werthülse", zum Legitimationsbegriff.28) Genau diese Funktion scheint er im weltweit verbreiteten ideologischen Diskurs von Fukuyama zu haben, für den "autoritär" und "demokratisch" offenbar austauschbare Begriffe sind. Dasjenige System, das im Sinne der Machtpolitik der Neuen Weltordnung demokratisch legitimiert werden soll, wird dann eben im Sinne eines "'soft' authoritarianism" charakterisiert.29) Mit dieser Methode kann eine Diktatur als "gute", "sanfte" Diktatur ebenfalls in den ideologischen Rahmen der liberalen Demokratie einbezogen werden. Die semantische Willkür, die derartige Festlegungen kennzeichnet, entspricht dem eben geschilderten Herrschaftsdiskurs. Die jeweilige Demokratietheorie wird zur formalen Hülse, mit der eine vorgefundene, spontan entstandene machtpolitische Konstellation nachträglich ideologisch gerechtfertigt werden soll. Dies bedeutet eine fortschreitende Relativierung ursprünglich mit Überzeugung formulierter Grundsätze.30) (Der Prozeß der fortschreitenden Neudefinition einer Verfassung durch die machtpolitische Praxis wird uns derzeit am Beispiel der Neubestimmung der Rolle des Sicherheitsrates jenseits der in Kap. VII der Charta vorgesehenen Kompetenz- und Verfahrensregelungen besonders drastisch vor Augen geführt.)

Was die Demokratietheorien im nationalstaatlichen Bereich betrifft, bedeutet der kontinuierliche Umsetzungs- und Interpretationsprozeß letztlich eine Dogmatisierung und Immunisierung des repräsentativen Paradigmas (und vor allem auf dieses haben wir uns, da es weltweit derzeit als das einzig gültige propagiert wird, bezogen). Die politische Wirklichkeit widerlegt fortwährend die politische Theorie und die auf ihr aufbauende Verfassung. Genau dies aber darf nicht eingestanden werden. Das System der parlamentarischen Demokratie, wie wir es kennen, beruht von Anfang an auf der Fiktion der Volkssouveränität, die gemäß der Doktrin und Praxis der Repräsentation im Namen eben dieser Souveränität negiert wird.

Es bleibt dahingestellt, ob eine weniger prätentiös formulierte politische Theorie, welche die Unvereinbarkeit von Demokratie und Sachwalterschaft einbezieht und die Dinge beim Namen nennt, zu einer konsistenteren realpolitischen Umsetzung führen würde. Falls Legitimation eines Systems bedeutet, daß die der Herrschaft Unterworfenen mit diesem Faktum versöhnt werden sollen, wäre der Legitimationseffekt einer solchen Theorie jedenfalls geringer. Andererseits würde eine theoriekonforme Praxis, auch wenn man sich von liebgewordenen Illusionen verabschiedet, sicherlich die Akzeptanz des jeweiligen politischen Systems - als Herrschaftssystems - verbessern. Eine Revision der Demokratietheorie und der jeweiligen Verfassung angesichts der andersgearteten Praxis sollte daher in Erwägung gezogen werden, wenn man vermeiden will, daß das Schlagwort der "Demokratie" als Legitimation für alles und jedes (einschließlich einer bewaffneten Intervention und der Außerkraftsetzung der Menschenrechte) herhalten muß. Eine inhaltlich ausgehöhlte Theorie ist als bloßes Sedativum dem Mißbrauch zugänglicher und damit machtpolitisch gefährlicher als eine realistische Theorie der tatsächlichen Mechanismen politischer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Eine Oligarchie im Namen der Demokratien wäre gefährlicher Selbstbetrug.

Wenn man sich jedoch der Aufgabe einer Neuformulierung der Theorie der Repräsentation in ihrer Einschränkung der Volkssouveränität nicht stellen will, bleibt nur das ganz andere Paradigma der partizipatorischen bzw. direkten Demokratie,31) das Repräsentation grundsätzlich ausschließt. Dieser Theorie ist bis jetzt aus Gründen der Praktikabilität in der Machtausübung keine Beachtung geschenkt worden. Sie scheint jedoch die einzige Alternative zu einer Neuen Weltordnung zu sein, in der das "liberale" Demokratieverständnis und die Demokratiepraxis der einzig verbliebenen Supermacht weltweit verordnet werden und in welcher sich neue kriegerische Auseinandersetzungen zur Durchsetzung des Universalitätsanspruches dieser Doktrin, der gleichwohl ein versteckter Machtanspruch ist, abzeichnen.32) Die politische Wirklichkeit der Repräsentation widerlegt nicht nur die jeweilige Verfassung, wie wir zu zeigen gesucht haben, sie schafft im Weltmaßstab die neue Realität des "guten", "demokratiekonformen" Gemeinwesens, das sich der demokratischen Legitimationsterminologie trotz gegenläufiger Praxis und wider besseres Wissen aus taktischen Gründen bedient. Nur "Dissidenten" wie Noam Chomsky

haben dies bis jetzt auszusprechen gewagt.33) Insgesamt laufen wir jedoch Gefahr, die Chance einer ideologischen Neubesinnung angesichts des Zusammenbruches des mit dem Kapitalismus und seiner "klassischen" Ausprägungsform: der liberalen Demokratie, rivalisierenden Systems - des Sozialismus - zu verspielen. Statt einer Verbesserung unserer politischen Theorie steht ihre Verabsolutierung auf der Tagesordnung. Demokratie wird zur leicht handhabbaren, alles legitimierenden Leerformel. Die Ideologen folgen wieder einmal den Spielregeln der Machtpolitik, anstatt diese auf ihre Legitimation zu hinterfragen.

 


Fußnoten

1) Erst die Wiener Menschenrechtskonferenz scheint hier einen langsamen Bewußtseinswandel eingeleitet zu haben. Vgl. bes. die Formulierungen zum Recht auf Entwicklung in Paragraph 6 des Schlußdokumentes [Vienna Declaration and Programme of Action, 25 June 1993].

2) Vgl. die detaillierte Analyse des Verf.: Die Repräsentationslehre. Zum Problem des Idealismus in der politischen Theorie, in: Philosophie - Recht - Politik. Abhandlungen zur politischen Philosophie und zur Rechtsphilosophie. Wien/New York 1985. S. 27-45.

3) Vgl. die Abhandlung des Verf.: Demokratie und Neue Weltordnung. Ideologischer Anspruch und machtpolitische Realität eines ordnungspolitischen Diskurses. Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaft und Politik, VIII. Innsbruck 1992.

4) Mit der Problematik solcher Fiktionen im österreichischen Verfassungssystem hat sich der frühere Justizminister Hans R. KLECATSKY eindringlich auseinandergesetzt: Geht das Recht der Republik Österreich vom Volke aus?, in: Juristische Blätter, Jg. 98 (1976), S. 512-515. Er spricht in diesem Zusammenhang von "Verfassungslügen, die die an der politischen Macht befindlichen Gruppen in ihren Aktionen gegenüber dem zum abstrakten 'Volk' kollektivierten Einzelmenschen alibieren" (513).

5) Vgl. die schonungslose Analyse von Jean ZIEGLER: Die Schweiz wäscht weißer. Die Finanzdrehscheibe des internationalen Verbrechens. München 1992.

6) Vom Wesen und Wert der Demokratie. Aalen 1963 (Neudruck2. Aufl.), S. 26ff.

7) Vgl. die Kritik des Verf. an seinem Demokratiekonzept in: Demokratie und Neue Weltordnung, bes. S. 26ff.

8) Zur Legitimationsproblematik aus der Sicht der staatlichen Autorität vgl. Rodney BARKER, Political Legitimacy and the State. New York 1990.

9) Zu den vom Verf. aufgewiesenen normenlogischen Widersprüchen vgl. Die Prinzipien des Völkerrechts und die Menschenrechte, in: Philosophie - Recht - Politik, S. 77-101.

10) Im nationalen Bereich ist der "Sozialpartnerstaat" Österreich ein besonders eindringliches Beispiel für die solcher Realpolitik innewohnende "normative Kraft des Faktischen".

11) Vgl. die Überlegungen von Robert MICHELS: Grundsätzliches zum Problem der Demokratie, in: Masse, Führer, Intellektuelle. Politisch-soziologische Aufsätze 1906-1933. Frankfurt/New York 1987, bes. S. 183ff, und: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. Neudruck 2. Aufl., Stuttgart 1957, bes. S. 371ff, sowie die Ausführungen des Verf.: Rechtsgeltung und Repräsentation, in: Philosophie - Recht - Politik, bes. S. 49ff.

12) Eine hervorragende Beschreibung der Machteliten im oligarchisch-plutokratischen System der USA hat C. WRIGHT MILLS schon in den fünfziger Jahren vorgelegt: The Power Elite. London/Oxford/New York 1956. Die Mechanismen der Meinungsbildung ("manufacture of consent") in einem oligarchisch-parlamentarischen System hat Walter LIPPMANN schon in den zwanziger Jahren illusionslos analysiert: Public Opinion. With a New Introduction by Michael Curtis. Brunswick/London 1991.

13) Vgl. dazu die Darstellung des Verf.: Das Abstimmungsverfahren im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Rechtsphilosophische Überlegungen zu einem normenlogischen Widerspruch und seinen Folgen für die internationalen Beziehungen. Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaft und Politik, VI. Innsbruck 1991.

14) Zur mangelnden demokratischen Legitimität der Vereinten Nationen vgl. Hans KÖCHLER (Hrsg.), The United Nations and the New World Order. Keynote addresses from the Second International Conference On A More Democratic United Nations. Studies in International Relations, XVIII. Wien 1992.

15) So spricht Wolfgang SCHILD von den Menschenrechten als "Fundament" und "kritischem Maßstab" der modernen Demokratie: Freiheit Gleichheit "Selbständigkeit" (Kant): Strukturmomente der Freiheit, in: J. SCHWARTLÄNDER (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie. Kehl a. Rh./Straßburg 1981, S. 135.

16) Dazu kritisch Hans R. KLECATSKY/T. E. WALZEL VON WIESENTREU, Durchbruch zum Menschenrechtsstaat, in: Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels. Festschrift für Ludwig Adamovich zum 60. Geburtstag. Wien/New York 1992, S. 222ff.

17) Der Verf. hat diese ideologiekritische Problematik an anderer Stelle ausführlicher behandelt: Zur Frage der Menschenrechtskonformität demokratischer Systeme, in: Revolution and Human Rights. Proceedings of the 14th World Congress in Edinburgh, August 1989. ARSP, Beiheft Nr. 41. Stuttgart 1990. S. 50-62.

18) Mit Bezug auf die Menschenrechte ist dies bei der Wiener Weltkonferenz vom Juni 1993 überdeutlich geworden.

19) Diese Problematik wurde auf einer internationalen Expertentagung (Genf 1985) als ein Grund für die Legitimationskrise auch der Demokratie westlicher Prägung identifiziert. Siehe: Hans KÖCHLER (Hrsg.), The Crisis of Representative Democracy. Frankfurt a.M./Bern/New York 1987.

20) Vom Wesen und Wert der Demokratie. Aalen 1963 (Neudruck2. Aufl.), S. 29ff.

21) Walter LIPPMANN hat bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert vorausgesehen, wie die modernen Public-Relations-Methoden das politische System grundlegend verändern und das "Dogma" von der Entscheidungskompetenz des Bürgers ad absurdum führen werden (vgl. Public Opinion, Neuausg. New York 1991, S. 248: "... that the knowledge of how to create consent will alter every political calculation and modify every political premise").

22) Darauf hat auch Hans KELSEN unmißverständlich hingewiesen: op. cit., bes. S. 30ff.

23) Vgl. The End of History?, in: The National Interest, Bd. 16 (1989), S. 3-18, sowie The End of History and the Last Man. London o. J.

24) Vgl. Capitalism and Democracy. The Missing Link, in: Dialogue, n. 100, 2/93, S. 5.

25) Zu einer systemimmanenten Kritik des liberalen Demokratiemodells vor allem im Hinblick auf die wirtschaftlichen Machtverhältnisse vgl. Christopher J. BERRY, The Idea of a Democratic Community. Hemel Hempstead/New York 1989.

26) FUKUYAMA, op. cit., S. 7

27) ebd.

28) Darauf hat der Kommunikationstheoretiker Walter LIPPMANN mit Bezug auf das amerikanische System verwiesen: "The stereotype of democracy controlled the visible government ... It was only the words of the law, the speeches of politicians, ... and the formal machinery of administration that have had to conform to the pristine image of democracy." (Public Opinion. New York 1922 [Neuausg. 1991]. S. 287)

29) FUKUYAMA, op. cit., S. 7.

30) Mit Bezug auf das amerikanische politische System und dessen Legitimationskrise hat diesen Prozeß William GREIDER eindringlich analysiert: Who Will Tell the People. The Betrayal of American Democracy. New York 1992.

31) Vgl. dazu Benjamin BARBER, Strong Democracy. Participatory Politics for a New Age. Berkeley/Los Angeles/London 1984, sowie John BURNHEIM, Is Democracy Possible? The alternative to electoral politics. Berkeley/Los Angeles 1985.

32) Vgl. Lori FISLER DAMROSCH/David J. SCHEFFER (Hrsg.), Law and Force in the New International Order. Boulder/San Francisco/Oxford 1991, bes. den Abschnitt: Intervention Against Illegitimate Regimes, S. 143ff.

33) Vgl. Democracy in the Industrial Societies, in: Deterring Democracy. London/New York 1991. S. 331-350.